Vom Seminar direkt in die Praxis

Die Frage, wie Seminarinhalte in die berufliche Praxis übertragen werden können, ist stets aktuell. Zur Zeit erlebt dieses Thema einen regelrechten Boom. Zwei Tage Seminarerlebnis in einem schönen Hotel ist einfach zu wenig. TRAiNiNG im Gespräch dazu mit Experten.

Ein großes österreichisches Unternehmen mit rund 1 000 Mitarbeitern hat vor Kurzem ein gewagtes Experiment durchführen müssen. Aus Kostengründen wurden alle Schulungen eingespart, mit Ausnahme der Schulungen, die aus rechtlichen Gründen durchgeführt werden mussten. So wurde viel Geld gespart. Und welche Konsequenzen hatte das? Hier das ernüchternde Ergebnis, von dem selbst die Personalabteilung überrascht war: Gar keine! Weder an der Motivation oder der Zufriedenheit der Mitarbeiter, noch an den Zahlen waren irgendwelche Unterschiede zu den Jahren zu erkennen, in denen viel Geld in Schulungen investiert wurde.
Was bedeutet das nun? Dass sämtliche Ausgaben in Seminare woanders besser investiert gewesen wären? So wie in dem Buch »Die Weiterbildungslüge« behauptet wird? Wohl kaum. Dagegen spricht vieles.
Allerdings ist es von großer Bedeutung, dass Seminare und Weiterbildungsaktivitäten nicht isoliert betrachtet werden. Um den Nutzen von Schulungsmaßnahmen zu erhöhen, gilt es einiges zu beachten. So z. B., dass es sinnvoll ist, alle beteiligten Personen zu involvieren, selbstverständlich auch die Führungskräfte, die wissen müssen, was am Seminar trainiert wird, um am Arbeitsplatz entsprechende Veränderungen überhaupt zu bemerken. TRAiNiNG hat bei Experten nachgefragt, wie Seminare, egal ob online oder präsent, den maximalen Nutzen für die Teilnehmer und für das Unternehmen bringen können.

Michaela Kellner (Trainer und Geschäftsführer bei ANKH.AT): »Für uns macht es beim Lerntransfer keinen Unterschied, ob das Training online, hybrid, rein präsent oder als Blended-Learning-Konzept durchgeführt wird. Lerntransfer setzt immer an verschiedenen Ebenen an. Und er beginnt immer schon VOR dem Training. Zum Cast gehören folgende Personen: Führungskraft und/oder HR/PE, Trainer, Teilnehmer.«

Anna Langheiter (Experte für Trainingsdesign) sieht es ähnlich: »Die Maßnahmen zur Förderung des Lerntransfers sind die gleichen, egal ob es sich um Online-Schulungen oder Präsenztrainings handelt. Transferwirksame Trainings beziehen die drei Faktoren ›Teilnehmer‹ ›Trainingsdesign‹ und ›Organisation‹ ein.  Wenn die Teilnehmer einen Sinn erkennen, die Inhalte relevant für die Arbeit sind, wenn das Training an die Strategie angebunden ist und die Führungskraft/die Organisation den Transfer unterstützt, dann wird Lerntransfer stattfinden. Daher ist es wichtig, dass die Teilnehmer die eigenen Themen bzw. das eigene Projekt mit ins Training bringen, konsequent daran arbeiten können und dass die Umsetzung auch entsprechend gewürdigt wird.«

Michaela Kellner stellt Maßnahmen (in Form von zu beantwortenden Fragen) vor, die die jeweiligen Akteure vor, während und nach dem Training konkret einsetzen können:

Vor dem Training

Führungskraft: Wie werden die Teilnehmer informiert und eingeladen? Erfolgt das wertschätzend und zielorientiert? Oder gibt es die nackten Fakten: Wann und wo das Training stattfindet? Gibt es ein Gespräch und Zielvereinbarungen zwischen Führungskraft und Teilnehmer?

Trainer: Wie ist der Kontakt vorab zwischen Trainern und Teilnehmern? Können die Teilnehmer die Trainer schon vorab kennenlernen? So erhalten sie Orientierung und im besten Fall gewinnen sie Sicherheit und bauen Vertrauen auf. Passiert das via E-Mail, Video, Steckbrief, Link zur Homepage, Kennenlern-Webinar, Erwartungsabfrage, Vorstellungsplattform …?

Teilnehmer: Sind die Teilnehmer bereit, schon vor dem Training aktiv zu werden: Füllen sie den Fragebogen aus? Stellen Sie sich auf der Lernplattform kurz vor? Wie groß ist die Bereitschaft, etwas zu lernen, etwas anzunehmen, auszuprobieren und zu verändern?

Während des Trainings:

Führungskraft: Werden die Teilnehmer bei Trainingsbeginn von der Führungskraft begrüßt? Das geht heute mit Online-Tools wirklich ganz einfach. Werden die Ziele des Trainings noch einmal hervorgehoben? Was ist das Unternehmen bereit, für die Weiterbildung auszugeben? Welche Wertschätzung erleben die Teilnehmer im Training: Hotel oder Besprechungszimmer, Pausen-Snacks und Getränke, Essen …?

Trainer: Im Training ist es wichtig, dass Trainer einen konkreten Praxisbezug herstellen. Die Lernziele oder Transferziele werden nicht erst am Ende des Trainings erarbeitet, sondern am Ende jeder Lerneinheit. So entstehen Mini-Umsetzungs-Schritte in einem ›Lerntagebuch‹.

Teilnehmer: Wir Menschen lieben unsere Gewohnheiten, deshalb fallen uns Veränderungen so schwer. Damit wir etwas verändern, brauchen wir Zeit, Motivation und einen konkreten Nutzen. Bei den Mini-Umsetzungs-Schritten notieren sich die Teilnehmer ihren persönlichen Nutzen.

Nach dem Training

Führungskraft: Ist das Unternehmen bereit, Ressourcen wie Geld, Zeit, Lernraum und eine gute Fehlerkultur zur Verfügung zu stellen? Wie bereit ist die Führungskraft, beim Lernen, Umsetzen, Verändern und Reflektieren zu unterstützten? Mindeststandard für einen gelungenen Lerntransfer sollte sein: ein Ziel-Vereinbarungs-Gespräch direkt nach dem Training und ein weiteres nach Vereinbarung.

Trainer: Trainer sehen auf einer Lernplattform genau, wer wie intensiv den Lerntransfer nutzt. Die Teilnehmer können sich das Fotoprotokoll und weitere Handouts downloaden. Sie erhalten regelmäßige Erinnerungen mit konkreten Lern-Aufgaben, Quiz, spielerische Wiederholungen, Videos, Audios, Geschichten und vieles mehr. Je nach Lernkultur im Unternehmen werden diese Angebote mehr oder weniger intensiv genutzt. Wünschenswert wäre ein intensiveres Zusammenarbeiten zwischen Führungskraft und Trainern.

Teilnehmer: Wer sich schon vor oder während des Trainings konkrete Ziele oder Umsetzungs-Schritte erarbeitet hat, setzt auch beim Lerntransfer deutlich mehr und effektiver um.

Das Thema ist also mit ein paar Maßnahmen relativ einfach umzusetzen, wenn die Personalabteilung, die Trainer und die Teilnehmer echtes Interesse daran haben. Oft sind es nur Kleinigkeiten, die einen enormen Unterschied machen. In diesem Zusammenhang seien kurz 2 Bücher erwähnt, die Trainern und Personalentwicklern helfen, in das Thema einzusteigen:
»Was Trainings wirklich wirksam macht« von Ina Weinbauer-Heidel
»Trainingsdesign« von Anna Langheiter.

Alois Widena (VBC-Partner) fasst die wichtigsten Transfer-Aktivitäten zusammen: »Wirksamer Lerntransfer bedeutet für mich, nach einer Schulung nicht nur etwas zu kennen, also Wissen aufzubauen, sondern es danach auch zu können, sprich in Form von Handlungskompetenz! Aus meiner Sicht braucht es für die Förderung des Lerntransfers:

  • Den Faktor Zeit: Angelerntes Verhalten verändern wir Menschen nicht von heute auf morgen!
  • Bereits in der Vorbereitungsphase zum Training Erwartungsklarheit zum Training bei den Teilnehmern schaffen und die Transfererwartung kommunizieren.
  • Im Training an relevanten Praxisfällen arbeiten und den Teilnehmern konkrete Transferaufgaben entsprechend der Trainingsinhalte individualisiert für jede Person für die Umsetzung in die Praxis anbieten. Sogenannte Lernnuggets nach dem Motto, das merke ich mir, das nützt es mir und das werde ich konkret tun.
  • Die Transferaktivitäten planen. Was passiert bis wann und woran werde ich meinen Erfolg erkennen?
  • Touchpoints in der Learning-Journey anbieten, Interaktionen mit Lernbegleitung durch Tutoring, Coaching durch die Führungskraft, E-Learnings, Lernvideos, Austausch in Peergroups …

Also viel geplante Interaktion am Weg der Verhaltensänderung, damit der Aufbau von Wissen und vor allem von Handlungskompetenz gelingt, um vom Kennen zum Können zu kommen!«

Digitale Tools für den Lerntransfer

Es gibt mittlerweile einige gute Tools (siehe nächste Spalte), die dabei helfen, das neu gelernte Wissen in den Alltag zu bringen. Nur durch digitale »Helferleins« wird sich die Transferproblematik nicht lösen lassen. Sie bieten aber gute Hilfe und ein Blick zu den Anbietern zahlt sich jedenfalls aus.
Anna Langheiter: »Es gibt drei Arten von digitalen Tools: E-Learning, Kooperatives Online- Lernen und das Live-Online-Lernen.
Im Bereich E-Learning können Transfer-Apps eingesetzt werden. Wenn das Lernen schon mit einer App durchgeführt wird, wird die App von den Teilnehmern mit größerer Wahrscheinlichkeit für den Transfer verwendet. Das Schweizer Unternehmen Flourister hat eine sehr coole App entwickelt, die das Lernen und vor allem den Transfer durch digitale Communities und den Einbezug des Arbeitsumfeldes mit schnell umsetzbarem Feedback begleitet.
Beim Kooperativen Online-Lernen werden kleine Gruppen von Lernenden gebildet, sie sich virtuell treffen und gemeinsam Themen bearbeiten. Eine Variante davon sind Lern-Transfer-Circle, bei denen sich die Teilnehmer 12 Wochen lang jeweils genau eine Stunde pro Woche treffen und sich bei der Umsetzung des Gelernten unterstützen.
Kurze Live-Online-Trainings oder digitale Sprechstunden, die nach dem Training über einen Zeitraum angeboten werden, tragen zur Transferwirksamkeit von Trainings bei.«

Alois Widena über digitale Tools: »Sie sind Begleiter und keine Hauptakteure. Die Mischung macht erfolgreichen Lerntransfer aus. So wie nur Präsenztrainings oder nur Online-Trainings allein wenig Wirkung bringen, bringen auch digitale Tools allein wenig Wirkung. In Kombination steigern sie die Wirkung des Umsetzungserfolges. In der Learning-Journey haben sich unterstützende Lernvideos mit Content zum Training zum ›Nachschauen‹ und in Erinnerung rufen bewährt. E-Learnings und Gamification mit Quiz zahlen in die gleiche Kassa ein.«

Michaela Kellner stellt eine Liste von Tools zur Verfügung: »Es gibt unglaublich viele digitale Tools, die erfolgreich den Lerntransfer unterstützen. Die wichtigste Frage lautet: Wie einfach und nützlich sind diese? Dürfen die Teilnehmer darauf zugreifen oder sind sie von der firmeninternen IT gesperrt? Je spielerischer die Tools sind, desto eher werden sie genutzt. Ob Kreuzworträtsel, Wortwolken, Quiz, Labyrinth, Memory, Lückentexte oder Glücksrad – alles was Spaß macht, darf auch für den Lerntransfer eingesetzt werden.
Tools für selbstständiges Arbeiten vor oder nach dem Training:

  • Quiz und Fragebogen: MS Forms, Google Forms, Surveymonkey
  • Digitale Whiteboards zum kollaborativen Arbeiten wie Vorstellung, Wissens-Datenbank, Erfahrungsaustausch, Reflexion: Jamboard, Padlet, Trello, Oncoo, Miro, Mural
  • Wortwolken generieren mit wortwolken.com, answergarden oder wordart
  • Mindmaps gemeinsam online erstellen mit Mindmeister, mind-map-online.de
  • Gather Town – ist eine Mini-Spielewelt mit integriertem Videomeeting
  • Zusätzliche Tools für kollaboratives Arbeiten im Training oder in Web-Talks, die wir sehr gerne für den Lerntransfer einsetzen: Kahoot, Mentimeter, Sli.do, Whiteboards der Videokonferenz-Tools.«

Überblick über viele weitere Online-Tools gibt es unter anderem hier:
https://techagainstcoronavirus.com/edu.

Nachfrage und Angebot

Über viele Jahre wurden Seminare im Gießkannenprinzip eingekauft und ins Unternehmen gestreut. Das ist Vergangenheit. Heute wird selektiv ausgesucht, was für Mitarbeiter und Unternehmen wichtig ist. Das Thema Lerntransfer kommt aber immer noch etwas zu kurz.

Anna Langheiter: »Wenn ich mit Auftraggebern die Trainingsbedarfsanalyse durchführe, ist meine Lieblingsfrage: ›Wie werden Sie den Transfer begleiten?‹ So rücke ich die Verantwortung des Unternehmens in den Vordergrund. Allerdings scheut man sich häufig vor dem Aufwand, den gute Lernbegleitung bedeutet, und den Führungskräften ist ihre so wichtige Rolle im Transfer immer noch viel zu wenig bewusst.«
Michaela Kellner: »Wir bieten seit mehr als 15 Jahren alle unsere Trainings immer mit Lerntransfer an. Damit haben wir und unsere Kunden langfristig den größten Erfolg. In der Fachliteratur ist das Thema Lerntransfer und Transferwirksamkeit seit einigen Jahren recht präsent. In der Praxis wird der Lerntransfer jedoch oft einfach an die Trainer delegiert. Langsam beginnt bei den Unternehmen ein Umdenken.«

Alois Widena: »Einige Unternehmen wollen ›quick und dirty‹ schnell was tun, in der Hoffnung, dass danach die Mitarbeiter wie durch Zauberhand alles besser machen. Hier ist der Bedarf an ›Transferwirksamkeit‹ erst zu wecken. Bei anderen ist das Thema etablierter und es wird in transferstarke Trainingsmaßnahmen mit einem ROI investiert. Denn mal ehrlich: Wer gibt schon gerne Geld aus, wovon nix zurückkommt?«

Fazit
Seminare, die keinen Nutzen generieren, schaden dem Unternehmen, den Teilnehmern und der gesamten Bildungsbranche. Es ist wichtiger denn je, sich mit dem Thema Lerntransfer und Trainingsdesign zu beschäftigen. Für den Beginn reichen oft kleine Maßnahmen, die bereits einen großen Unterschied machen.

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