Lehrreiche Anekdoten

Warum Anekdoten ein geniales Tool für Seminare sind, und wie Sie zu lehrreichen Geschichten kommen, lesen Sie in diesem Artikel.

»Vor einigen Jahren arbeitete ich an einem Projekt zur Entwicklung eines Hochgeschwindigkeits-Schlauchbootes. Der Prototyp war fertig und ich durfte die Jungfernfahrt machen. Ich konnte es kaum erwarten. Mit gigantischer Geschwindigkeit brauste ich über die See. Doch die Batterie des Boots-Motors war so schlampig angeklemmt, dass die Befestigungsplatte des Motors permanent unter Strom stand. Das salzige Meerwasser erledigte den Rest und so kam es zu einer elektrochemischen Kontaktkorrosion. Plötzlich riss eine Schraube. In den wenigen Minuten meiner Fahrt war sie komplett durchgerostet. Ein heftiger Ruck riss mir das Steuerruder aus der Hand. Abrupt schwenkte mein Boot in eine Rechtskurve. Ich flog durch die Luft und ehe ich mich versehen konnte, landete ich im Meer. Doch was war das? Das Ruder meines Schlauchboots hatte sich seitlich verklemmt. In immer engeren Kreisen sauste es um mich herum. Ich fürchtete um mein Leben. Erst ein Hubschrauber-Einsatz konnte eine schlimme Katastrophe verhindern.«
Diese Geschichte erzählte unser Physik- und Chemieprofessor im Jahr 1985 in der 2. Klasse der HTL. Und noch heute – mehr als 30 Jahre später – weiß ich ganz genau, was eine elektrochemische Kontaktkorrosion ist. Und das, obwohl ich mich seit der 2. Klasse nie wieder damit beschäftigt habe. Die Geschichte hat das Wissen tief in meinem Gedächtnis verankert.

Wozu Anekdoten?

Wer kennt sie nicht? Die Sufi-Geschichten des weisen Narren Mullah Nasruddin, Fabeln, Märchen, Sprichworte (z. B.: »Du kannst das Pferd zur Tränke führen, aber trinken muss es selbst.«) aber auch religiöse Werke (z. B. die Bibel, das Mahabharata, die Geschichten von Buddha …).
Seit Jahrtausenden werden wichtige Botschaften in Form von Geschichten weitergegeben. Dann kam eine Zeit, in der man Storys nur als »Zeitverschwendung« betrachtete. Schließlich geht es ja viel schneller, Folie um Folie aufzulegen und den Teilnehmern kompakt die Theorien vorzulesen. Denn dann kann man guten Gewissens sagen: »Ich habe den kompletten Stoff vermittelt.« Dass dabei nur das Hirn, nicht aber das Herz der Teilnehmer angesprochen wurde, interessierte niemanden. Aber mit der Zeit erkannte man, wie wenig die Teilnehmer aus solchen Seminaren mitnehmen. Das reine Vermitteln abstrakter Informationen hat gravierende Nachteile:
Abstraktes Denken ist für Menschen sehr anstrengend. Bereits nach 10 bis 15 Minuten sinkt unsere Aufmerksamkeit dabei auf nur noch 70 %. Komplexere Zusammenhänge können wir dann kaum noch aufnehmen.
Wird das Herz nicht angesprochen, so erzeugt die vermittelte Botschaft weder Bilder noch Emotionen. Das sind aber genau jene Bausteine, mit denen unser Hirn arbeitet. Worte ohne Bilder und ohne Emotionen verblassen nach wenigen Minuten wieder.
Meist wollen wir unsere Teilnehmer durch Seminare zu einer Veränderung ihrer Handlungen bewegen. Eine bloße Vermittlung von Wissen wird aber nachhaltig kaum etwas verändern. Dafür müssten wir die Werte und Einstellungen unserer Teilnehmer ansprechen. Doch das geht nur über Emotionen. Und dafür brauchen wir Storys.
Letztendlich ist eine reine Vermittlung von abstrakten Informationen auch langweilig und verführt unsere Teilnehmer dazu, ihren eigenen Gedanken und Träumen nachzugehen.

Die Macht der Anekdoten

Unterhaltung
Heute ist Storytelling wieder in aller Munde, denn Anekdoten erzeugen Spannung, berühren uns oder bringen uns zum Lachen. Sie erzeugen positive oder negative Emotionen. Wie lange können wir denn einem epischen Hollywood-Film aufmerksam folgen? Na so 2 bis 3 Stunden locker, oder?
Als Trainer haben Sie nun die Wahl: Reicht es Ihnen, wenn Ihre Teilnehmer bloß 10 bis 15 Minuten lang aufmerksam sind oder würde Ihr Training mehr bewirken, wenn Sie deren Aufmerksamkeit über mehrere Stunden aufrecht erhalten könnten?

Nachhaltiger Transfer
Mit Anekdoten zaubern Sie Bilder in die Köpfe Ihrer Teilnehmer und Emotionen in deren Herzen. Die prägen sich ein und bleiben noch lange erhalten. Unser Gehirn verankert die vermittelten Inhalte mit den erzeugten Bildern und Emotionen. Und immer, wenn wir ein ähnliches Bild sehen oder eine ähnliche Emotion verspüren, erinnern wir uns an die Inhalte.

Der »innere Querulant«
Wir sind heute einer permanenten Reizüberflutung ausgesetzt. Auf jedem nur erdenklichen Kanal werden wir mit Werbung belästigt. Unser Posteingang ist überfüllt mit Angeboten, die wir eigentlich gar nicht brauchen. Dadurch gewöhnen wir uns daran, neue Informationen skeptisch zu hinterfragen und erst mal den »Haken« daran zu suchen. Wir wissen: »Es gibt nichts geschenkt!« Wen wundert es also, wenn auch unsere Teilnehmer jede neue Information permanent (zumindest intern) skeptisch hinterfragen. Aber das lenkt natürlich ab und kostet Aufmerksamkeit. Mit Anekdoten können wir diesen »inneren Querulanten« überlisten. Denn: Ist die erzählte Geschichte halbwegs plausibel, so lässt sich jeder gerne darauf ein. Und schon werden Bilder und Emotionen erzeugt und mit einer Handlung verknüpft.

Glaubwürdigkeit
Denken Sie jetzt bitte noch einmal zurück an die Anfangs-Story dieses Artikels. Hätte unser Professor Ihnen erklärt, dass Strom und Wasser zwei sich berührende Metalle innerhalb weniger Minuten verrosten lassen, so könnten Sie aufstehen und rufen: »So ein Quatsch! Das glaube ich nicht!« Erzählt er hingegen von einem dramatischen Erlebnis, das ihm selbst passiert ist, so kann das ein Zuhörer (der ja selbst gar nicht dabei war) auch nur schwer in Frage stellen.

Sympathie
Erzählt jemand Geschichten aus seinem Leben, so lernen wir ihn besser kennen. Er wird uns vertraut. Erzählt er die Geschichten gut, so verrät er uns dabei eine Menge über seine Gefühle und Werte und wie er mit anderen umgeht. Er »zeigt uns sein Herz«. Das erzeugt »Nähe«. Es ist ein großer Vertrauensvorschuss. Denn dabei riskiert man, von einem Zuhörer ausgelacht und/oder »verletzt« zu werden. Als Trainer zeigen Sie damit ihre gute Absicht. Sie vermitteln, dass Ihr Seminar einen vertrauensvollen Rahmen bietet, in dem man sein »Herz ruhig öffnen« darf. Und genau das wollen Sie ja erreichen. Denn dann kommen Ihre Botschaften nachhaltiger bei Ihren Teilnehmern an. Mit Storys erzeugen Sie also »einen guten Draht« zu Ihren Teilnehmern.

Pre-Teaching
»Pre-Teaching«? Ja gibt es denn ein Lernen vor dem Lernen? Klar gibt es das! Zu jedem Thema, das Sie vermitteln, gibt es mindestens eine zentrale Erkenntnis, von der Erfolg oder Misserfolg bei der Anwendung maßgeblich abhängt: die Kernbotschaft. Sprichwörter sind meist gute Kernbotschaften. (z. B.: »Kleider machen Leute«). Diese Botschaften lassen sich ganz prima in Form von persönlichen Storys vermitteln. Erzählen Sie die möglichst bildhaft und emotional, dann lernen Ihre Teilnehmer die Kernbotschaft ganz unbemerkt. Lange bevor Sie die dazugehörigen Inhalte vermitteln.

Passende Anekdoten finden

Mein erstes Qualitäts-Management-System führte ich bei einem Unternehmen ein, das Fertigteile aus Beton herstellte. Dieses Unternehmen brauchte kein Zertifikat, sondern führte das QM-System aus Überzeugung ein – aus Überzeugung des Geschäftsführers. Das heißt natürlich nicht, dass auch alle Führungskräfte und Mitarbeiter vom Nutzen überzeugt waren. Und so musste ich beim ersten Mal Tausende Grundsatz-Diskussionen führen. So wurde ich zu einem der ambitioniertesten Qualitäts-Manager. Mein zweite QM-System führte ich bei einer Firma ein, die Fertigteil-Häuser verkaufte. Da hatte ich es schon viel leichter: Ich ersparte mir viele Diskussionen, indem ich einfach Geschichten über den Nutzen in der ersten Firma erzählte. Bei der Arbeit mit Anekdoten stellen sich viele Trainer gleich mal die Frage: »Was erzähle ich bloß? Ich habe doch noch nie etwas Interessantes erlebt.«
Was passiert denn, wenn Sie einen netten Freund treffen? Sie fragen: »Wie geht es dir?« Und als Antwort erzählt man Ihnen eine persönliche Anekdote über ein Thema, das Ihr Gegenüber gerade besonders beschäftigt. Was lernen wir daraus? Alles im Leben ist eine Anekdote für irgendwas! Das Problem daran ist einzig: In dem Moment, wo es passiert, wissen wir noch gar nicht, wofür das eine Anekdote sein könnte. Und wenn Sie dann für Ihre Seminare passende Anekdoten suchen, fällt Ihnen erst wieder nichts Passendes ein. Mein Tipp: Sammeln Sie Ihre Anekdoten dann, wenn sie passieren. Fangen Sie sofort damit an!

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Smetana

Gastautor
Michael Smetana
ist seit 16 Jahren auf Tipps und Tools für verblüffend wirksame Trainings spezialisiert.
Von seinen didaktischen Coachings ­profitieren Einsteiger wie ­erfahrene Top-Trainer.
trainergeheimnisse.com