Mensch oder Maschine?

Digitalisierung und demografische Entwicklung verändern auch das Recruiting. Welche konkreten Trends in diesem Bereich auf uns zukommen und worauf sich Personalabteilungen und Bewerber einstellen müssen, beleuchtet dieser Artikel.

Glauben wir dem ICR Recruiting Report von 2017 (www.competitiverecruiting.de), so fällt auf, dass generell recruitingrelevante Themen für Unternehmen immer wichtiger werden. Das ist auch verständlich, denn falsch ausgewählte Kandidaten kosten das Unternehmen bekanntlich viel Geld.
Am wichtigsten ist derzeit das Thema Arbeitgeberimage. Am stärksten an Bedeutung zugenommen haben die Themen »Candidate Experience« und »Active Sourcing«. Auch Social-Media-Recruiting zeigt ein leichtes Comeback, die Bedeutung von Mitarbeiterempfehlungsprogrammen setzen den Aufwärtstrend seit 2014 langsam aber stetig fort.

Thomas Olbrich (Chief Culture Officer bei karriere.at) weiß, aus welchen Gründen sich HR-Abteilungen weiterentwickeln müssen: »HR-Management, Recruiting und Organisationsentwicklung spielen in modernen Unternehmen eine tragende Rolle. Nur wer die passenden Mitarbeiter hat – und dabei spreche ich sowohl von fachlicher Qualifikation als auch menschlich-individueller Passung – wird optimale Ergebnisse erreichen. HR-Abteilungen werden ihre Arbeit weiterentwickeln müssen, weg von der Personalsuche und -verwaltung, hin zum strategischen Partner in Unternehmen.«
Was Technologien betrifft, werden derzeit Bewerbermanagementsysteme mit Abstand am häufigsten genutzt, und der Trend zeigt, dass dabei sogar noch zugelegt wird. Software zur Suche von Bewerbern (z. B. in Sozialen Netzwerken, Xing Talent Manager, LI Recruiter) ist der Shooting Star bei der Recruiting-Technologie-Nutzung und konnte die Verbreitung um mehr als das Doppelte steigern. Die Richtung geht eindeutig weiter nach oben.
Die sonstigen Technologie-Lösungen sind noch nicht so stark verbreitet und zeigen auch (noch) keine starke Tendenz – außer zeitversetzte Video-Interviews, die allerdings 2017 einen Einbruch in der Nutzung aufweisen.

Thomas Olbrich über die Veränderungen der letzten Jahre im Recruiting: »Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer hat sich ganz grundlegend geändert: Bewerber treten in Recruitingprozessen nicht mehr wie früher als reine Bittsteller in Erscheinung, sondern verkaufen sich und ihr Portfolio selbstbewusst, vor allem, wenn es sich um qualifizierte Fachkräfte handelt. Das bedeutet, dass nicht nur Gespräche auf Augenhöhe stattfinden müssen, sondern dass es darum geht, sich als Unternehmen möglichst attraktiv zu präsentieren. Ein weiterer Punkt schlägt in dieselbe Kerbe: Es geht beim Recruiting heute weniger um Reichweite und maximalen Bewerbungsrücklauf, als um qualitativ hochwertige Ergebnisse. Diese können nur dann gewährleistet werden, wenn der gesamte Recruiting-Mix eines Unternehmens einer definierten Strategie folgt und eine klare Positionierung als Arbeitgeber – Stichwort Employer Brand – herausgearbeitet wird.«

Auch Rudi Bauer (Geschäftsführer StepStone) erkennt spürbare Veränderungen beim Recruiting in den letzten Jahren: »Der Jobmarkt hat sich deutlich gewandelt: Konnten sich Unternehmen früher ihre Mitarbeiter gezielt aussuchen, fehlt es heute an allen Ecken und Enden an Fachkräften. Damit haben Jobsuchende mehr Macht über die Bewerbungsprozesse – und Unternehmen tun gut daran, das in ihren Ausschreibungen zu berücksichtigen. Mit klassischen Stellenanzeigen lockt heute niemand mehr den begehrten IT-Experten hinter dem Ofen hervor. Vor allem die junge Generation erwartet sich eine gezielte Ansprache auf Augenhöhe und will lieber mit ihresgleichen fachliche Probleme lösen als von klassischen HR-Profis auf die übliche Art und Weise gelangweilt werden. Wer die Sprache seiner Zielgruppe nicht spricht, wird beim Recruiting große Probleme bekommen – die üblichen HR-Floskeln ziehen nicht mehr.«

Martin Röhsner (Geschäftsführer dieBerater®): »Es gibt beim Recruiting starke Unterschiede bei den jeweiligen Jobprofilen. Je allgemeiner und scheinbar leichter ein Job zu besetzen ist, umso mehr greifen Recruiter auf standardisierte Auswahlverfahren als Erstselektion. Entscheidungen werden rasch getroffen und nur wenige Kandidaten zu Gesprächen eingeladen. Auf der anderen Seite werden Stellenanzeigen nicht immer genau gelesen und Bewerbungen auf Jobs geschrieben, die in keinster Form geeignet sind. Dadurch gewinnen automatisierte Jobplattformen, die das Matching übernehmen, immer mehr an Bedeutung.«

Als die größten Herausforderungen aktuell im Recruiting werden im ICR-Reporting folgende Punkte genannt:

  • Gute Bewerber zu finden und offene Stellen schnell zu besetzen belasten fast jeden zweiten Recruiter und zeigen einen zweijährigen Aufwärtstrend.
  • Jeder dritte Recruiter beklagt sich über zu viel Arbeit – mit steigender Tendenz.
  • Jeder vierte Recruiter hat Probleme, das richtige Verhältnis zwischen operativem Recruiting und Projektarbeit zu finden – mit ebenfalls steigender Tendenz.

Der technische Fortschritt nimmt auch beim Recruiting weiter Fahrt auf. Personen, die im Recruiting arbeiten, müssen sich intensiv mit den neuen Methoden zur Personalauswahl auseinandersetzten – das ist mitunter ihr Job. Bei vielen HR-Konferenzen oder -Messen zeigen Start-ups zahlreiche neue Lösungen für das Recruiting auf, seien es Chatbots, neue Testverfahren, innovative Lösungen für das Talent-Management oder für das mobile Recruiting. Hier am Ball zu bleiben und zu wissen, welche neuen Lösungen es gibt, ist ein »must have« für den Recruiter.
Glaubt man einer Umfrage von LinkedIn (Ende 2016), so sagen 83 % der Befragten, dass die Suche nach Talenten das Allerwichtigste für Unternehmen ist. Wenn Geld keine Rolle spielte, würden 53 % in Employer Branding investieren, 39 % in neue Recruiting-Technologien und 38 % in bessere Sourcing-Tools.
Ebenfalls in dieser Studie wurde nach den wichtigsten Trends gefragt, die das Recruiting auszeichnen: 37 % erkennen, dass es wichtiger wird, eine größere Vielfalt an Kandidaten zu bekommen, 35 % ist es wichtig, die Soft Skills der Kandidaten besser erfassen zu können und 34 % sehen einen Zuwachs in der Bedeutung von innovativen Interview-Tools.

Martin Röhsner über mögliche zukünftige Trends im Recruiting: »Zeitersparnis bei Recruitingprozessen ist der wichtigste Faktor. Empfehlungen und Netzwerke werden daher weiterhin an Bedeutung zulegen. Die Suche darüber hinaus wird fast ausschließlich nur mehr über soziale Netzwerke und Matchings auf Jobplattformen funktionieren. Das klassische Jobinserat in den Printmedien wird es in der bekannten Form nicht mehr geben. Online werden offene Positionen als Jobs auf Zeit angeboten. Weder das Angebot noch die Nachfrage werden sich an langjährigen Bindungen an ein Unternehmen orientieren. Es geht um kurzfristige Verfügbarkeiten mit permanent wechselnden Tätigkeiten. Gelingt es einem Unternehmen, immer wieder neue und interessante Herausforderungen zu bieten, werden Beschäftigte länger bleiben wollen. Begriffe wie Arbeitgeber und Arbeitnehmer verschwinden, stärkere Flexibilität muss geboten werden und wird auch nachgefragt. Menschen werden automatisierte Übereinstimmungen bei Auswahlprozessen als gegeben und als beste Entscheidungsgrundlage empfinden.«
Rudi Bauer erkennt einen ähnlichen Trend: »Wir werden einerseits die Verschmelzung von Privat und Arbeit erleben: Mit Tablets, flexiblen Office-Zeiten und Remote Workers ist die Trennung zwischen beruflicher und privater Sphäre immer mehr aufgehoben. Andererseits achten immer mehr Menschen auf einen Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit: Wer tagsüber ordentlich ›reinhackelt‹, will entsprechend kompensiert werden, und zwar lieber mit mehr freier Zeit als einer Gehaltserhöhung, von der nach Abzug der Steuern ohnehin nichts übrig bleibt. Arbeitgeber, die das verstehen, können sich schon mit ganz einfachen Mitteln die besten Köpfe an Bord holen: indem sie ihnen flexibles Arbeiten ermöglichen und Talenten auch zugestehen, dass die besten Ideen eben nicht zwischen 9 und 17 Uhr am Büroschreibtisch kommen, sondern auch mal abends nach drei Bier mit den Freunden. Durch die zunehmende Transparenz im Netz wird außerdem das gläserne Unternehmen immer stärker Thema – weil Kandidaten immer mehr und immer genauere Informationen über ihren künftigen Arbeitgeber online finden, etwa über Arbeitgeberbewertungen. Der Trend geht weg von der Hochglanzbroschüre – ›weltweit führend im Innovationsbereich‹, denn das wollen ohnehin alle Firmen sein. Vielmehr haben Unternehmen, die sich ehrlich mit ihren Macken und Schrammen präsentieren, im Kampf um die besten Talente die Nase vorn – auch wenn das heißt, dass sie die Hosen runterlassen müssen.«

Robot Recruiting

In einschlägigen Fachartikeln und Vorträgen von Zukunftsforschern liest und hört man in letzter Zeit davon, dass Roboter den kompletten Recruitingprozess übernehmen werden. »Robot Recruiting« wird das genannt. Ein großer Vorteil läge hier natürlich im Punkt der Gleichberechtigung, denn ein Roboter hat keine Vorurteile. Ist also ein Roboter ein besserer Recruiter? Kann er Soft Skills beurteilen oder nur die fachliche Eignung überprüfen? Entscheiden in Zukunft Algorithmen, ob jemand einen Job bekommt oder nicht?
In den USA wird bereits ein Großteil der Besetzungen automatisiert verarbeitet. In Europa ist das erst ein mögliches Zukunftsszenario, bisher setzen vor allem Technologieunternehmen auf diese Technik. Selbst Experten sind sich bei diesem möglichen Trend unsicher. Die einen sehen in den heutigen Möglichkeiten erst den Anfang einer vollständig automatisierten Recruiting-Technik, während andere sie maximal als Zusatzhilfe ansehen.
Rudi Bauer über den möglichen Automatisierungstrend: »Eine so heikle Angelegenheit wie das Recruiting talentierter Mitarbeiter kann sicher auch in 20 Jahren nicht in die Hände rein rational denkender Roboter gelegt werden. Schließlich muss der neue Mitarbeiter auch menschlich ins Team passen – und da hat ein bloßer Algorithmus sicher Schwierigkeiten, den ›cultural fit‹ sicherzustellen. Was wir aber sicher erleben werden, ist eine verstärkte Nutzung von Big Data und Recruiting-Software – mit all den Vor- und Nachteilen. Denn wenn man wirklich gezieltes Recruiting über große Datensätze betreiben will, braucht man dafür IT-Spezialisten – und die werden auch in 20 Jahren gesucht sein wie die Nadel im Heuhaufen. Auf Kandidatenseite wird Virtual Reality sicher ein Thema: etwa, wenn mit einer Datenbrille ein typischer Tag im Office nachvollzogen werden kann.«

Kompetenzen der Zukunft

Durch die genannten Veränderungen brauchen Recruiter in den nächsten Jahren zusätzliche Kompetenzen. Möglicherweise ist auch eine veränderte Haltung von Nöten, um erfolgreich Personal auszuwählen, das Bauchgefühl alleine ist zu wenig, denn eine Ansprache auf Augenhöhe wird von Kandidaten sehr positiv aufgenommen. Die Rollenverteilung des Recruiters als Eintrittsbarriere in ein Unternehmen und der Bewerber als demütiger Bittsteller sollten längst der Vergangenheit angehören. Social-Media-Kompetenzen werden auch für Recruiter noch wichtiger werden, genauso wie die Analysefähigkeit, um neue Kanäle gut auf ihre Wirksamkeit bewerten zu können.
Rudi Bauer über die Kompetenzen der Zukunft: »Der Recruiter der Zukunft braucht drei Grundkompetenzen: Den Ehrgeiz, seine Kandidaten wirklich zu verstehen und ihre Expertise auch im Recruiting-Prozess abzubilden, indem er fachlich auf sie eingeht und nicht mit reinen HR-Schlagworten zur Tür hinaus langweilt. Die Weitsicht, Bewerber längerfristig aufzubauen und mit vielfältigen Maßnahmen schon früh ans Unternehmen zu binden – über den nachhaltigen Dialog auf jenen Kanälen, die Talente auch wirklich nutzen. Und schließlich die Gelassenheit, auch auf den ersten Blick ›unpassenden‹ Kandidaten eine Chance zu geben: Wenn Lebensentwürfe immer individueller werden, darf ein Sabbatical in Südostasien genauso wenig ein Ausschlusskriterium für einen Kandidaten sein wie ein unkonventioneller Bildungsweg oder längere Auszeiten aus privaten Gründen. Kurz gefasst: Der Weltenbummler, die alleinerziehende Mutter und der 55-jährige arbeitslose Abteilungsleiter könnten für Unternehmen die nächste große Zukunftshoffnung sein – auf das müssen sich Recruiter in ihrer Suche einstellen.«

Thomas Olbrich: »Ich denke, es gibt drei große Fragen, die sich Recruiting-Verantwortliche heute und in Zukunft stellen müssen, um für Kandidaten adäquate und relevante Angebote kommunizieren zu können: Welche Ziele hat unser gemeinsames Unternehmen? Wie arbeiten wir in diesem Unternehmen zusammen? Welche Menschen bringen mein Unternehmen zum Ziel? Big Data und künstliche Intelligenz werden natürlich auch die Personalsuche und Personalmanagement stark beeinflussen, vor allem werden auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen laufend angepasst, was HR-Arbeit unmittelbar beeinflusst. Ich bin aber davon überzeugt, dass Personalarbeit immer mit Menschen zu tun haben wird, weil es letztlich um die Beziehung geht, in der Arbeitnehmer als Kollegen in einer gewissen Organisationsform zusammenarbeiten. Technische Lösungen bieten bei administrativen Themen und beim Öffnen von ›Spuren‹ zu passenden Bewerbern massives Potenzial. Ob ein Kandidat aber letztlich in ein Team und in eine Organisation passt, kann nur durch Menschenkenntnis und individuelles Gespür des Recruiters festgestellt werden. Recruiting wird weiterhin menschlich bleiben.«

Martin Röhsner: »Recruiter müssen neben finanziellen Anreizen ein hohes Maß an zeitlicher Flexibilität bieten und bereit sein, individuelle Arbeitsmodelle zu entwickeln. Employment Branding wird endgültig seinen Durchbruch erleben und bestimmender Faktor im Recruiting-Prozess werden.«

Fazit
Der Recruiter der Zukunft ist gefordert – mehr denn je. Und mehr denn je stehen ihm unzählige Möglichkeiten offen, den passenden Bewerber zu bekommen. Die Zeit wird zeigen, ob es ein Miteinander von Mensch und Maschine geben kann – auch im Recruiting.

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