Mike Tyson, der Nähgarn-Spezialist?

Wie man Eigenschaften von Bewerbern schon im Erstgespräch anhand der Körpersprache erkennen kann.

Papier ist geduldig. Ein Bewerbungsschreiben auch. Geschickte Wortwahl, eine tolle Ausbildung und bedeutende Unternehmensnamen können schon mal einen guten Eindruck machen. Aber der Arbeitsalltag erfordert andere Qualitäten als einen tollen Lebenslauf. Dort zählt eher: Was trägt ein neuer Mitarbeiter zum Teamgefüge bei? Wie viel Sicherheit kann er dem Kunden vermitteln? Wie offen ist er für Neuerungen? All das lässt sich ins Bewerbungsschreiben leicht reinschreiben. Ein wahrnehmungsgenauer Personalverantwortlicher wird aber beim ersten Gespräch erkennen, ob er dem Inhalt dieses Schreibens glauben kann oder nicht. Und zwar an der Körpersprache.

Wer sich hier jetzt ein paar allgemeine Tipps erwartet, woran er den idealen Mitarbeiter erkennt, den muss ich leider an Horoskopleser, Menschen-in-Kategorien-Presser und Mentalisten verweisen. Denn ein Bewerbungsgespräch ist eine Matrix von mehreren Achsen. Demnach gibt es eben keine »beste« Körpersprache – sie ist vielmehr von Variablen abhängig.

Zum einen hängen die Anforderungen an einen Bewerber von der angestrebten Tätigkeit ab. Ein Controller muss anders rüberkommen, um Glaubwürdigkeit auszustrahlen, als ein Fitnesstrainer. Einmal wird vor allem Feingespür, Geduld und Ruhe verlangt werden, ein andermal Genauigkeit und Konzentration und wieder ein anderes Mal Kraft und Ausdauer. All diese Eigenschaften zeigen sich natürlich unterschiedlich in der Körpersprache. Ein Mensch, der überzeugend als Möbelpacker auftritt, wird mit derselben Körpersprache für andere Jobs vielleicht nur geringe Glaubwürdigkeit vermitteln. Oder würden Sie Mike Tyson den Nähgarn-Spezialisten abnehmen? Überlegen Sie sich daher nicht nur, ob Ihnen dieser Mensch zu Gesicht steht, sondern was sich die Menschen im Berufsalltag von ihm erwarten.

Die zweite Variable lege ich Ihnen besonders ans Herz. Nämlich: Wie flexibel ist der Mitarbeiter? Das können Sie auch schon im Gespräch abschätzen. Die meisten Bewerbungsfragen zielen absurderweise auf gegensätzliche Fähigkeiten ab: Wird zu Beginn des Gesprächs Offenheit und Integrationsfähigkeit erwartet, folgt im Laufe des Gesprächs die Frage nach Durchsetzungsfähigkeit. Da geht es um Teamfähigkeit und im nächsten Moment soll die Fähigkeit zu eigenständigen Entscheidungen demonstriert werden. Wie bitte? Ist das eine nicht genau das Gegenteil vom anderen?

Aber der Reihe nach: Es ist ein Missverständnis, zu glauben, dass jene Unternehmen die erfolgreichsten sind, die die fachlich besten Arbeitskräfte rekrutieren. Die Wichtigkeit der fachlichen Kompetenz ist unbestritten. Allerdings steht an Nummer 1: Der Mitarbeiter muss dazu beitragen, im Unternehmen eine Arbeitsatmosphäre zu gestalten, in der jeder seine fachlichen Fähigkeiten gerne und mit Enthusiasmus einbringt. Konkret gesagt: Die Kollegen sollten sich freuen, ihn am nächsten Tag wieder zu sehen, die Kunden sollen sich gerne an den Mitarbeiter wenden, und die Meetings sollen ein wenig angenehmer sein, wenn der neue Kollege anwesend ist. Die Herausforderung ist, dass es ständig neue Gegebenheiten im Arbeitsalltag gibt. Deswegen zeichnen sich die besten Mitarbeiter dadurch aus, dass sie sich schnell auf möglichst viele unterschiedliche Situationen und Menschen einstellen können. Und somit dem anderen das geben, was er braucht, um sich wohl und verstanden zu fühlen. Sei es dem gestressten Chef anzuzeigen, dass man mit demselben Energielevel an einer Sache dran ist oder dem unsicheren Kunden Zuversicht zu vermitteln. Dem teamorientierten Kollegen partnerschaftlich entgegenzukommen und den Einzelkämpfer in Ruhe arbeiten lassen.

Ohne Vielfalt wirkt man einfältig

William B. Ashby, ein englischer Psychiater und Kybernetiker, formulierte ein Gesetz, das »Law of Requisite Variety«. Dieses »Gesetz der erforderlichen Vielfalt« besagt, dass ein System, welches ein anderes steuert, umso mehr Störungen im Steuerungsprozess ausgleichen kann, je größer seine Handlungsvarietät ist. Umgelegt auf unsere Kommunikation bedeutet das: Ein Mitarbeiter wird umso mehr Situationen erfolgreich meistern, je mehr verschiedene Handlungsmöglichkeiten er zur Verfügung hat. Bezogen auf das Bewerbungsgespräch: Jede neue Frage stellt eine neue Situation dar. Je mehr unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten der Bewerber zur Verfügung hat, desto souveräner wird er in jeder einzelnen Situation wirken. Umgekehrt: Je weniger Handlungsmöglichkeiten er hat, desto eher gerät er in Schwierigkeiten durch Unglaubwürdigkeit und nicht authentisches Verhalten. Menschen, die sympathisch und nahbar wirken, werden sich leichter tun, sich ins neue Team zu integrieren. Dieses Verhalten führt allerdings nicht weit, wenn es um harte Verhandlungen geht. Und Menschen, die stets sehr kompetent und sachlich wirken, beeindrucken durch ihre Abgeklärtheit – aber es sind auch oft die, die bei der Kundenveranstaltung recht einsam herumstehen. Die Herausforderung für Personalentscheider ist es, das bereits im Bewerbungsgespräch zu erkennen, denn niemand kann jeden Bewerber zwei Wochen lang probearbeiten lassen. Sie müssen sich also auf sein »Versprechen« verlassen. Nicht das Versprechen mit seinen Worten – das kann zu leicht gesteuert werden. Sondern auf das Versprechen seiner ehrlichsten Kommunikationsform: der Körpersprache. Achten Sie deswegen darauf, wie sich seine Körpersprache in den einzelnen Phasen des Bewerbungsgesprächs verändert.

Offenheit und Sympathie: Das zeigt sich zum Beispiel an den Händen. Wenn diese sichtbar sind und nicht im Schoß oder unterm Tisch versteckt, ist das ein guter Beginn. Offenheit zeigt sich auch an den Sinnesorganen: Sind diese zugewandt, will dessen Gehirn viel Informationen aufnehmen. Also: Augenkontakt, leicht geöffneter Mund und der Körper zugewandt. Sympathisch wirkt auch meist, wenn beim Sprechen der Mund und damit auch der Unterkiefer merkbar bewegt wird. Zudem ist die Haltung meist asymmetrisch. Ein Bein wird überschlagen, der Kopf leicht seitlich gehalten. Und natürlich: Lächeln! Wer viel lächelt und dabei auch den Mund leicht öffnet, wirkt nicht nur im Bewerbungsgespräch sympathisch, sondern auch im neuen Team.

Anpackmentalität: Da sind genau jene Körperteile aktiv, die es dazu braucht. Nämlich die Hände. Wer die Arme wie unbrauchbare Werkzeuge an sich runter hängen lässt, die Jacke unbeholfen am Schoß liegen lässt und die Bürotüre nur zögerlich schließt, zeigt damit schon zu Beginn wenig Initiative. Lassen Sie lieber ein wenig zu viel Aktivität vom Bewerber im Bewerbungsgespräch über sich ergehen – im Job sind diese Menschen oft gewünschter.

Kompetenz und Durchsetzungsfähigkeit: Das zeigen wir Menschen mit einer symmetrischen Körperhaltung. Wenn wir wissen, wo wir hinwollen, richten wir die gesamte Energie und damit unseren Körper in Zielrichtung aus. Zudem wird der Kopf dabei gerade gehalten und die Stirn ein wenig gesenkt. Wenn er Sie dann noch aus tiefen Augen anblickt, zeigt dieser Mensch einiges an Durchsetzungsfähigkeit. Das schafft man nur, wenn man sich seiner Sache sicher ist. Diese Fähigkeit wird er im Job oft brauchen. Allerdings sollte er diese Haltung nur kurz beibehalten, denn sie wirkt sehr schnell mal konfrontativ. Ach ja: Kompetente Menschen lächeln! Denn nur wenn der Cortisolspiegel – unser Stresshormon – sehr hoch ist, schafft man es, nicht mehr zu lächeln. Lächelnde Menschen zeigen also an: Ich fühle mich hier sicher!

Achten Sie also auf die Körpersprache. Auch auf Ihre. Denn oft sind Sie der Auslöser für bestimmte Reaktionen des Gegenübers. Wer die volle Offenheit des Bewerbers haben will, muss eine Atmosphäre der Sicherheit und des Wohlgefühls schaffen.

Und abschließend plädiere ich noch ganz stark für Ihr Bauchgefühl. Wenn Sie ein unangenehmes Gefühl haben, versuchen Sie an der Körpersprache zu ergründen, was es ausgelöst hat. Denn das Bauchgefühl ist keine Räucher-stäbchen-Globuli-Esoterik-Sache, sondern ist Ausdruck eine Sinneswahrnehmung, die noch nicht verbalisiert werden kann. Wer Körpersprache richtig lesen kann und sich seiner eigenen bewusst ist, wird mehr über andere Menschen erfahren!

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verra

Gastautor

Stefan Verra

ist einer der gefragtesten Körpersprache-Experten im deutschen Sprachraum. Jährlich begeistert er über 30 000 Menschen von Europa bis China.

www.stefanverra.com