Agile Fuck-up-Stories

Viele Unternehmen haben mit agilen Instrumenten experimentiert und unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Was zählt, sind die praktischen Auswirkungen.

Ich will als Unternehmer im Bereich Training und Beratung zwei »Fuck-up-Stories« im Zusammenhang mit Agilität und unsere Lernerfahrungen dazu teilen. Zuerst zum Kontext: Beide Geschichten haben sich innerhalb von MDI, einem internationalen Führungskräfte-Entwicklungsunternehmen mit ca. 30 Angestellten und 200 freiberuflichen Trainern, abgespielt. Meine Rolle und Perspektive ist die des Geschäftsführers.

1. Die Balance zwischen Innovation und Kerngeschäft verloren
Wir haben uns von den Chancen, die die Digitalisierung bietet, so mitreißen lassen, dass wir traditionelle Managementinstrumente wie Controlling aus den Augen verloren haben. Natürlich wussten wir theoretisch, dass Ambidextrie – also Beidhändigkeit – eine der wichtigsten Fähigkeiten von modernen Führungssystemen ist. D. h., es braucht den zweigesichtigen Janus-Blick sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit und Gegenwart, um die richtige Balance zwischen Innovation und Kerngeschäft zu halten.
Trotzdem tendieren viele Personen und auch Organisationen mehr in die eine oder die andere Richtung. Im Endeffekt ist das Ungleichgewicht einer der Hauptgründe, warum erfolgversprechende innovative Unternehmen nicht in die Skalierungsphase kommen und traditionelle Unternehmen aufgrund von Klammern an vergangenen Erfolgen es nicht schaffen, die Veränderungen am Markt selber zu gestalten und von der unbarmherzigen, beschleunigten Evolution aussortiert werden. Wir streben als MDI eine jährliche Umsatzrendite von 5 % an, weniger als die meisten unserer Kunden. Warum? Uns ist eine faire Verteilung des wirtschaftlichen Kuchens zwischen den Hauptbeteiligten, also Mitarbeitern, Lieferanten (freiberufliche Trainer) und Gesellschaftern wichtig. Es ließe sich auch so zusammenfassen: Wenn wir mehr als 5 % verdienen, zahlen wir unseren Mitarbeitern zu wenig. Andererseits ist der prozentuelle Gewinnanteil der Sicherheitspuffer, um Liquiditätsengpässe zu vermeiden, wenn unvorhergesehene Probleme auftreten. 2017 hatten wir 37 % Umsatzwachstum. Unser Hauptproblem war, genügend Teammitglieder zu haben, um dieses Wachstum zu bewältigen und zu vermeiden, dass Mitarbeiter aus Überforderung das Handtuch werfen. Also erweiterten wir fleißig unsere Belegschaft auf Basis rollierender Quartalsbudgets und wir investierten in digitale Lösungsideen, die erst mittelfristig einen Gewinnbeitrag bringen würden.
So wurde das Controlling aus Zeitknappheit heraus etwas nebenbei erledigt und einige wichtige Entwicklungen wurden damit übersehen. Bei der Finalisierung der Bilanz für 2018 im Mai 2019 überraschte uns dann der erreichte Brutto-Gewinn von weniger als 1 % vom Umsatz. Wir hatten für 2018 schon niedriger geplant, aber einige Kostenentwicklungen übersehen und fanden uns in einer Situation wieder, wo kaum Gewinn im Vorjahr erwirtschaftet wurde und das erste Halbjahr 2019 trotz Wachstums noch schlechter aussah.

Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen, aber es brauchte natürlich eine Gegensteuerung: Projekte wurden hinterfragt, Prozesse gestrafft, Produktivität erhöht und das hat seinen Preis: Die Mitarbeiter wurden nervöser. Die Anpassungen konnten über den Sommer umgesetzt werden und wir erreichten innerhalb von ein paar Monaten wieder die richtige Balance. Aber die unangenehme Gegenbewegung und somit der Stress in der Organisation wären vermeidbar gewesen, wenn wir ausreichend Zeit und Fokus auf Controlling gelegt hätten.

Unsere Lernerfahrung: Gerade wenn sich viele Chancen ergeben, behalte mit deinem Standbein guten Kontakt zum festen Boden, damit das Spielbein Freiheit hat, Gelegenheiten zu nutzen und in Treffer zu verwandeln. Wenn es gut läuft, sei deinem Erfolg gegenüber skeptisch. Wenn es schlecht läuft, verliere nicht den Blick für die Gelegenheiten.
2. Mit Transparenz in den Widerstand
Die für uns zentralen Merkmale einer agilen Unternehmenskultur sind Transparenz, Iteration und Empowerment. Vor drei Jahren haben wir kundenorientierte Teams gebildet, die sich um alle Beratungs-, Key-Account- und Organisationsangelegenheiten bestimmter Kunden kümmern. Früher waren wir funktional organisiert, d. h. Consulting und Organisation waren getrennt und bei Problemen wurde die heiße Kartoffel gerne von einer zur anderen Seite geschoben. Die neue Teamorganisation funktionierte besser. Allerdings entwickelten sich im letzten Jahr die Auslastungssituationen recht unterschiedlich. Die Teamleiterinnen mit aktuell weniger Auslastung waren optimistisch, dass sich ihre Situation bald verbessert und sie somit ihre aktuellen Teammitglieder nicht hergeben könnten und diejenigen mit zu viel Auslastung riefen berechtigt nach mehr Mitarbeitern. Wir konnten aber aufgrund der Gesamtsituation nur begrenzt zusätzliche Mitarbeiter einstellen, also dachte ich als Geschäftsführer, dass wir hier mehr Transparenz brauchen. Wir erstellten eine monatliche Kapazitätsauslastungsübersicht für alle Teams und Überlassungsspielregeln und ich hoffte, dass dies natürlich zu der Erkenntnis führen würde, dass die wenig ausgelasteten Teams gerne Mitarbeiter für einige Monate zumindest teilweise überlassen würden. Irrtum: Die weniger ausgelasteten Teams argumentierten, dass die Zahlen nicht vergleichbar seien. Jedes Kundenprojekt ist anders und in unserem Team eben besonders aufwändig. Im Sinne von Empowerment akzeptierte ich die Argumentation für einige Zeit, aber die ohnehin schon geringe Gewinnmarge ermöglichte kein dauerhaftes Laissez-faire. Theoretisch lebten wir Transparenz und Empowerment. Praktisch baute sich Widerstand auf. Sogar bei den überforderten Teams, da diese keinen Konflikt mit den anderen Teams haben wollten, die Ressourcen zur Verfügung stellen sollten. Es kam zu Verzögerungen, Ineffizienz und viel Kommunikationsbedarf. Wie bei vielen Veränderungen braucht es meist das Durchschreiten des Tals der Tränen, bis die neue Situation, nämlich Transparenz und Selbstabstimmung, zwischen den Teams erreicht wird. Offensichtlich war mir die Kommunikation nicht gut genug gelungen, um sicherzustellen, dass dieses Tal kurz und leicht zu durchqueren ist.
Unsere Lernerfahrungen: Kommuniziere wiederholt den Zweck, höre zu, passe an, aber bleibe dran: Also klassisches Changemanagement. Weiters realisierten wir, dass die Teams ihren Erfolg stark über den Umsatz definierten. Der Gewinn wurde nur in Bezug auf die Gesamtorganisation ausgewertet. Die Teamleiter wollten durchaus Selbstabstimmung und Empowerment, kannten aber ihren Ergebnisbeitrag nicht. Also führten wir kürzlich Teamergebnisrechnungen ein. Im Einzelhandel und in Industriebetrieben ist es üblich, dass jedes Geschäft, jeder Produktionsstandort seinen Ergebnisbeitrag kennt. Wenn die Personalkosten in Relation zum Umsatz zu hoch sind, gibt es einen Anreiz, die Kosten zu reduzieren, in dem Mitarbeiter an Outlets mit besserer Auslastung ausgeliehen werden. In unserem Fall arbeiten ohnehin alle betroffenen Mitarbeiter am gleichen Bürostandort. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Wir versuchen gerade, Widerstand bzgl. Transparenz mit der Transparenz weiterer Kennzahlen (Gewinnbeitrag) aufzulösen. Echtes Em­powerment bedeutet, dass Mitarbeiter auch alle relevanten Auswirkungen kennen und dann selber entscheiden können, wie sie bei geringer Auslastung und Produktivität verschiedene Hebel betätigen können. Hebel sind z. B. Auswahl von Kundenprojekten, Verschlankung von Prozessen und eben Mitarbeiter-Kapazitätsmanagement. Wer allerdings bisher keine finanzielle Ergebnisverantwortung hatte, braucht meist Entwicklung und Coaching. Das kommende Jahr wird zeigen, ob diese Erhöhung von Transparenz und Empowerment zum nachhaltigen Erfolg des Unternehmens beiträgt. Und auch diese Geschichte zeigt, dass Agilität das regelmäßige Feedback einer passenden Erfolgsmessung braucht.

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Gastautor
Gunther Fürstberger
ist Geschäftsführer des MDI (Management Development Institut).
www.mdi-training.com