Belohnungen bestrafen

Warum firmeninterne Belohnungssysteme häufig eher das Gegenteil von Motivation hervorrufen, und welche Lösung es statt dessen gibt, lesen Sie in diesem Artikel.

Die Annahme, dass man Mitarbeiter motivieren, lohnen und belohnen müsse, ist nach wie vor verbreitet. Belohnungsmythen geistern durch die Gänge der meisten Organisationen. Doch die Neurotransmittersucht verdrängt unsere zutiefst menschliche Fähigkeit, innere Belohnung für jene Dinge zu empfinden, die zu tun wir lieben. Durch achtsame Gestaltung der Arbeitsbedingungen lässt sich das Problem lösen.

Als die Restaurantkette Pizza Hut in den 1990ern begann, jedem Kind einen Pizza-Gutschein für ein gelesenes Buch zu geben, lasen die Kinder so viele Bücher wie möglich – vor allem kurze und wenig anspruchsvolle Bücher. Der Umsatz des Unternehmens stieg, das Gewicht der Kinder auch. Mit Ende der Gutscheinaktion endete auch das Interesse der Kinder am Lesen, sogar bei den Kindern, die vor der Aktion lesefreudig waren. Der einfachste Weg, das intrinsisch gegebene Interesse von Kindern am Lesen zu zerstören, ist sie fürs Lesen zu belohnen. Ähnlich verhält es sich bei Erwachsenen mit der Arbeit: Die innere Motivation leidet darunter, wenn Arbeitsinhalt und Leistung zum Mittel degradiert werden, das den Zweck der Anreizung heiligt. Belohnung untergräbt das Interesse an der Arbeit selbst, verhindert Engagement und Höchstleistung. 

Belohnungsmythen

Demotivierende Instrumente finden sich in fast allen Unternehmen. Abgesehen von der Annahme, es brauche Führungskräfte, die Menschen loben, um sie zu motivieren, sind neben Bonussystemen und so genannter leistungsabhängiger Vergütung beispielsweise Innovationsanreize, Chefparkplätze, Einzelbüros, Jobtitel, Mitarbeitergespräche und -beurteilung, Rekrutierungsprämien, Talentprogramme, Vertriebsprovisionen, Wachstumsziele und Zielvorgaben jeder Art, Aktienoptionen, besondere Privilegien oder Auszeichnungen zum »Besten Mitarbeiter des Monats« zu nennen. Die Anreizpraktiken einzustellen, wäre für sich genommen schon ein Turbo-Booster dafür, dass die intrinsische Motivation jedes Einzelnen ungestört in gemeinsame Wertschöpfung einfließen kann. Wenn man Menschen permanent mit Belohnungen belästigt, nimmt das Interesse an der Arbeit selbst ab. Der Verzicht auf Anreizung rückt den Fokus auf Leistung und Höchstleistung in den Blick: Denn hervorragende Leistungen ziehen in die eine Richtung, Belohnungen in die andere.

Belohnung und Bestrafung wirken manipulativ

Der amerikanische Bildungsexperte Alfie Kohn veranschaulicht in seinen umfassenden Forschungsarbeiten, welche Schäden Anreizmythen verursachen. Kohn betont, dass Belohnung die Kehrseite derselben Medaille wie Bestrafung ist. Beide Seiten, Belohnung und Bestrafung, haben einen strafenden Effekt und wirken manipulativ. So auch der Experte für demokratisch-marktwirtschaftliche Unternehmensführung, Niels Pfläging: »Boni bewirken nicht, dass Leistung besser wird, sondern dass Mitarbeiter Wege finden, ihren Bonus zu bekommen. Manager sind nicht gierig: Sie werden durch gängiges Performance-Management gierig gemacht. Mitarbeiter sind nicht faul: Sie werden durch Anreizsysteme demotiviert und abgestumpft.«

Verhaltensüberwachung als Folge

Die Logik: Will man Menschen in Organisationen dafür bestrafen, wenn sie etwas falsch machen, dann muss man sie dabei erwischen. So auch, wenn sie etwas Richtiges tun, um sie dafür zu belohnen. In beiden Ansätzen muss man Menschen »erwischen«. Dafür bedarf es des Aufbaus von Kontrollmechanismen. Jeder noch so gut gemeinte Belohnungsmechanismus zahlt auf dasselbe Konto ein: das der Kontrolle von Verhalten. Je mehr man aber Menschen kontrolliert, statt Teams ihre Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit, desto mehr verlieren Menschen das Interesse an dem, was sie tun. 

Achtsame Gestaltung der Arbeitsbedingungen als Ausweg

Lob, verbale, soziale oder finanzielle Belohnung verursachen Neurotransmittersucht: Der Wunsch, immer wieder einen Kick zu bekommen, verdrängt unsere zutiefst menschliche Fähigkeit, innere Belohnung für jene Dinge zu empfinden, die zu tun wir lieben. Das Problem in heutigen Unternehmen ist entsprechend nicht die Erzeugung innerer Motivation oder der Liebe zur Arbeit, sondern deren Erhaltung. Dieses Problem aber lässt sich nur durch achtsame Gestaltung der Arbeitsbedingungen lösen: Erst die Schaffung guter, motivationsschützender Verhältnisse schafft eine Grundlage unternehmerischer Exzellenz. 

Bezahlung ist kein Motivator

Ein weiterer, hartnäckiger Denkfehler in Bezug auf menschliche Motivation ist die Überschätzung der Rolle des Geldes. Seit den Arbeiten des Motivationsforschers Frederick Hertzberg aus den 1960er-Jahren wissen wir: Nur weil zu wenig Gehalt Menschen demotiviert, bedeutet das noch lange nicht, dass mehr Geld zu höherer Zufriedenheit, geschweige denn zu höherer Motivation führt. Wenn Menschen für ihre Arbeit gut bezahlt werden, mögen sie froh darüber sein. Doch Menschen arbeiten nicht außergewöhnlich, um einen Gehaltsscheck zu erhalten: Die motivierende Wirkung oder der Ansporn durch die Extrameile ist reiner Mythos. Menschen erbringen Höchstleistung, weil sie lieben, was sie tun. Spätestens seit Hertzberg wissen Humanisten: Bezahlung ist kein Motivator – und sie war es nie. Anreize führen zu keiner dauerhaften Verpflichtung gegenüber einem Wert oder einer Handlung. Sie verändern lediglich vorübergehend das, was wir tun und erkaufen temporär Entsprechung. 

Der Fokus auf Einzelleistungen stört die Wertschöpfung

Offenkundig ist die weithin dominierende Vorstellung in Unternehmen, dass es dort persönliche Einzelleistung gäbe. Erkennbar an den vielfältigen Ziel- und Anreiz-Systemen, die auf den einzelnen Menschen einwirken und Wertschöpfung fördern sollen. In Wirklichkeit stören diese Praktiken jedoch Wertschöpfung. Denn nicht der Mensch, sondern das gemeinsam wertschöpfende Team ist die kleinste Leistungseinheit. Setzen wir Belohnungen ein, dann lassen wir Beziehungen der Zusammenarbeit zerbrechen und stören das für die Wertschöpfung nötige Miteinander-füreinander-Leisten. Preisverleihungen, Auszeichnungen, interner Wettbewerb, provozierte Konkurrenz fördern ein Verhalten, das Zusammenarbeit und gemeinsame Problemlösung vereitelt. 

Großartige Bedingungen für großartige Leistungen schaffen

Statt Kinder heute dazu zu bringen, ein zusätzliches Buch zu lesen, sollten wir uns mit der Schaffung von Verhältnissen beschäftigen, die dazu führen, dass Kinder auch morgen noch lesen wollen. Ebenso sollte es in Unternehmen darum gehen, großartige Bedingungen für großartige Leistung zu schaffen. Sodass Menschen sich gerne mit ihren Fähigkeiten einbringen, lernen und miteinander leisten. Die Alternative zu den Belohnungs-Systemen liegt in unternehmerischen Teams innerhalb dezentraler, selbstgesteuerter Strukturen.

Outside-in statt top-down

Die Methoden dazu existieren bereits: Der von Niels Pfläging 2021 vorgestellte Ansatz »Relative Ziele« verzichtet ganz auf individuelle Ziele. Er entkoppelt Leistung von Erwartungen, setzt auf Ist-Leistungsmessungen für alle Teams, statt fixierter Ziele für einzelne. An die Stelle von Plan-Ist-Abweichungsanalysen treten Ist-Ist-Vergleiche für Team-Selbststeuerung. Relative Ziele bedeuten das Ende von Verhaltenssteuerung. Dafür setzt man auf tragfähige interne Vereinbarungen, wenige relative Organisations- und Teamziele und faire Gehälter. Diese Werkzeuge ermöglichen weitaus mehr Transparenz, die langfristige Voraussetzung für Verantwortung, Wirtschaftlichkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Leistung ist. »Relative Ziele« verdeutlichen, dass sich Verantwortung nicht durch Motivierung hervorrufen lässt, sehr wohl aber durch geteiltes Bewusstsein für Wertschöpfung. Unternehmen brauchen das – und es stärkt auch unsere Demokratien.

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Elisabeth Sechser ist Experte für Organisationsentwicklung mit Fokus auf Agilität, Demokratieentwicklung und organisationales Lernen.

www.sichtart.at

 

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