Das Meer als Möglichkeitsraum

In diesem Artikel beschreibt die Autorin Parallelen zwischen der Unter- und der Oberwasserwelt. Von Tauchern können wir viel lernen.

Gut ausgestattet mit Atemluft kann man unter Wasser schweben und die Freiheit aller 3 Dimensionen auskosten. Wenn Tauchern das Wasser bis zum Hals steht, spricht das dafür, dass sie richtig tariert und bereit zum Abtauchen sind. Wie kann man auch im trockenen Alltag mehr spielerische Leichtigkeit, freudvollen Auftrieb und beglückenden Flow kultivieren?

Denkhorizonte dehnen

»Vielleicht wird alles vielleichter. Dann wird es viel leichter.« Dieses augenzwinkernde Wortspiel bringt auf den Punkt, was der Systemtheoretiker Heinz von Forster postuliert hat: »Handle stets so, dass die Anzahl der Handlungsmöglichkeiten größer wird.« Es geht darum, Möglichkeiten zu erschließen. Umgekehrt sind Entscheidungen, die in Sackgassen führen, kontraproduktiv. Tatsächlich wirken z. B. Haie beim Schnorcheln viel bedrohlicher, weil man an der Oberfläche »klebt«. Beim Tauchen kann man ihnen auf Augenhöhe begegnen – im Wissen, ihnen auch ober- oder unterhalb ausweichen zu können. Immer wieder holen uns beschränkende Glaubenssätze ein: »Das kann ich nicht.« »Das geht nicht.« »Das war schon immer so.« Wenn Sie sich dabei ertappen, »so bin ich halt« zu denken, können Sie dem reflexartig das Wort »BISHER« immunisierend entgegenhalten: »BISHER habe ich geglaubt, nicht singen zu können.« Fritz Perls, Begründer der Gestalttherapie, hat dazu gemeint: »Lernen heißt erkennen, dass etwas möglich ist.« Und genau so eine gute Erfahrung macht man in einer Tauchausbildung. Es geht, sogar ganz leicht, leichter als Schnorcheln.

(Tauch-)Freude wahren

Wenn man zu tauchen beginnt, ist alles faszinierend und beglückend. So wie bei frisch Verliebten schüttet das Hirn beim anfänglichen Erkunden der Unterwasserwelt und den ersten Begegnungen mit Clown-Fischen, Schildkröten oder Mantas rauschig-beglückende Endorphine aus. Weit offen steht dann die Falle des Lukrez-Phänomens: »Ein Narr ist, wer glaubt, der höchste Berg der Welt sei der, den er je gesehen hat.« Und so könnte es sein, dass Anfänger glauben, alles gesehen zu haben. Schließlich kennen sie ja alles, was sie kennen. Tatsächlich werden Menschen, die in super Destinationen ihr Unterwassererleben starten, häufig zu »Checklisten-Tauchern«: Das habe ich schon gesehen. Erledigt. Abgehakt. Was muss man noch gesehen haben? Sie sind zu sehr mit ihren Kameras beschäftigt, um ihre Erlebnisse zu dokumentieren und anderen zeigen zu können, als dass sie die Unterwasserfreuden auskosten können. Einerseits sind wir auf den Philippinen an einem der artenreichsten Riffe der Welt frustrierten Tauchlehrern begegnet, die ihren Trost im Alkohol an der Bar suchen. Und das, obwohl sie sich ihren Jugendtraum, einmal vom Tauchen in einem tropischen Land leben zu können, erfüllt haben. Andererseits ist Axel Horn ein Tauch-Urgestein auf den Malediven. Er freut sich immer noch über Begegnungen mit Barrakudas oder Fischschwärmen. Worin besteht der Unterschied? Das Glück liegt im Hier und Jetzt: Wir haben zwar schon sehr viele Schildkröten gesehen. Aber DIESE Schildkröte noch nicht.

Glück ist Erwartungsmanagement

Vor jedem Tauchgang gibt es ein Briefing, mit dem gemeinsam Orientierung geschaffen wird. Dabei wird besprochen, wie das Riff beschaffen ist, wie man es betauchen wird. Meist wird nach den örtlichen Besonderheiten und entscheidenden Tauchbedingungen zum Abschluss erzählt, welche Sehenswürdigkeiten das Riff bietet und welche Tiere man mit größerer oder kleinerer Wahrscheinlichkeit wo sehen kann. Einerseits steigert das die Motivation und hilft, sich vorfreudig zu überwinden, bei Kälte in einen nassen Tauchanzug zu steigen. Andererseits produzieren überzogene Erwartungen auch notgedrungen End-Täuschungen. Ein kluger Tauch-Guide wird daher sehr sorgsam auf eine gute Balance zwischen dem, was mit viel Glück möglich und dem, was ziemlich sicher ist, achten. Zu wissen, was man wo sehen könnte, erhöht natürlich die Wahrscheinlichkeit, an den richtigen Stellen auf das Wesentliche zu achten und auch gut getarnte Tiere zu entdecken.

Beruf oder Liebhaberei?

Ich lege Wert darauf, hoch professionelle Amateurin und Dilettantin zu sein – und das in der High-Performance-Liga. Mir sind die ursprünglichen positiven Sprachwurzeln bewusst geworden. In meiner provokanten Formulierung möchte ich verdeutlichen, welch krankmachende Abwertung bezahlte Arbeit in unserer Gesellschaft erfahren hat – was sich auch sprachlich widerspiegelt. »Amateurhaft« leitet sich vom lateinischen »amare«, d. h. lieben ab. Im ursprünglichen Sinn sind Amateure Menschen, die das zu lieben verstehen, was sie tun. Ähnlich steht es um »dilettantisch«: Es kommt ebenfalls aus dem Lateinischen, nämlich von »delectare« d. h. sich an etwas erfreuen. Dilettanten erfüllt es mit Freude, was sie schaffen. »Liebhaberei« wird steuerlich nicht anerkannt. Dabei wäre es eine gesunde, tragfähige Basis, seinen Beruf zu lieben und so nicht nur äußeren Erfolg, sondern auch innere Erfüllung zu finden. Im Zuge der Industrialisierung und dem tayloristischen »Zerhacken« von Schaffensprozessen in Arbeitsschritte am Fließband sind wir unserer Arbeit entfremdet worden. Spaß und Freude wurden als unprofessionell in die Freizeit verbannt. Das Wort Work-Life-Balance verdeutlicht, wie Arbeit vom Leben getrennt wurde. Das führt zu der von Professor Csikszentmihalyi aufgezeigten widersprüchlichen Situation, dass Menschen einerseits in der beruflichen Lebenszeit häufiger beglückende Flow-Momente erfahren als in der Freizeit und dennoch wünschen, sie müssten nicht so viel arbeiten.

Klug tauchen und leben

Das (Tauch-)Glück von zufälligen Ereignissen wie z. B. einer Begegnung mit Großfischen abhängig zu machen, die kaum beeinflussbar sind, ist eine fragile Strategie. Wenn man das Tauchen an sich liebt, sind alle positiven Zufälligkeiten ein zusätzlicher Gewinn.
Übrigens, die Großmutter-Weisheit »dann aufhören, wenn es am schönsten ist« hat neurobiologisch ihre Berechtigung. Die letzten Eindrücke sind prägend für unsere Erinnerung. Die meisten Tauchsafaris sind hingegen so, dass die tollsten Tauchplätze in der Mitte des Trips angesiedelt sind. Da ist man am weitesten weg vom Start- und Zielhafen und den überlaufenen Tauchplätzen. In der zweiten Hälfte der Reise lauert daher die Falle des Vergleichens und damit der Unzufriedenheit.
Bei einer unserer Tauchsafaris im Roten Meer sind zwei Taucher unzufrieden murrend aufgetaucht: »Wieder nichts gesehen!« Gemeint haben sie, dass sie keine Haie gesichtet haben. Augenzwinkernd habe ich zu ihnen gemeint: »Jetzt gilt es, klug zu tauchen und sich an dem zu erfreuen, was es gibt, statt das zu vermissen, was man als Besonderheiten ins Logbuch eintragen möchte.« Das ist eine förderliche Einstellung für alle Lebensbereiche und eine wesentliche Quelle für Motivation: Da wir bei vielem den Wert erst dann erkennen, wenn wir es vermissen, ist es klug, den Rat von Seneca zu befolgen: »Statt unzufrieden auf das zu schielen, was andere haben, ist es viel klüger, von dem was man hat, das Beste zu nehmen und sich vorzustellen, wie man sich danach sehnen würde, wenn man es nicht hätte.« Ich lade Sie daher zum Gedankenexperiment ein: Stellen Sie sich vor, morgen gibt es nur mehr das in Ihrem Leben, wofür Sie heute dankbar sind. Tatsächlich erkennen wir bei vielem den Wert erst dann, wenn wir es schmerzlich vermissen. Und Dankbarkeit ist eine der mächtigsten Quellen für Glück.

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Herbstrith

Gastautorin Monika
Herbstrith-Lappe
ist Gründerin und geschäftsführende Gesellschafterin von  Impuls & Wirkung –  Herbstrith Management Consulting.
www.impuls.at