Der Coach als Mentalist?

Über mentalisierungsbasiertes Coaching und seine Möglichkeiten
schreibt Gastautorin Steffi Bärmann.

Patrick Jane (»Der Mentalist«) tut es, genauso wie die Oma, die in der Nachbarschaft aus dem Fenster schaut und einschätzt, warum denn die vorbeilaufende Frau – wahrscheinlich eine Touristin – umherirrt. Wir alle haben die Mentalisierungsfähigkeit mehr oder weniger gut entwickelt:

Wir sind in der Lage, uns in andere Menschen hineinzuversetzen und bestimmte Sachverhalte und Emotionen zu antizipieren, ohne sie verbalisieren zu müssen. In der mentalisierungsbasierten Therapie (MBT) wird davon ausgegangen, dass Menschen insbesondere in Krisensituationen diese Fähigkeit (wieder) verlieren. Einschätzungen von Situationen werden aufgrund vorgelernter Muster bewertet, welche dann abgerufen werden, aber auch zu Diskrepanzen und letztendlich zu krankhaften Zuständen führen können. Diese können mit therapeutischer Hilfe behandelt werden. Coaching setzt am gesunden Menschen und der Stärkung der Reflexionsfähigkeit und Handlungskompetenz an. Inwiefern Anteile aus der mentalisierungsbasierten Therapie für die Zwecke des Coachings übernommen werden können, soll in diesem Artikel veranschaulicht werden.

Mentalisieren als fundamentaler Bestandteil menschlicher Identität

Mentalisieren ist die Fähigkeit, unsere mentalen Zustände und die der anderen zu verstehen. Gute Mentalisierungsfähigkeit zeigt sich im Vermögen zum fantasievollen, klugen und vorausschauenden Umgang mit dem Wechselspiel von Innen- und Außenwelt. Die Mentalisierungsfähigkeit wird sowohl von Erfahrungen in der Kindheit bestimmt als auch von jenen der Gegenwart. So können Alltagsgefühle wie Müdigkeit, ein spezifischer Kontext oder aktuelle Beziehungen Einfluss darauf haben, wie wir mit unseren Gefühlen umgehen. Je nach Situation werden wir zur Reflexion in der Lage sein oder nicht. In der Regel beeinträchtigt emotionale Erregung unsere Mentalisierungsfähigkeit. Der Verlust der Mentalisierungsfähigkeit destabilisiert das Selbst und provoziert Unsicherheit.

Mentalisierungsbasiertes Konzept

»We consider our focus on mentalizing to be a refinement rather than an innovation«, Allen, Fonagy & Bateman 2008

Das mentalisierungsbasierte Konzept wurde von Anthony Bateman und Peter Fonagy als mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) entwickelt, einem evidenzbasierten Behandlungsverfahren für die Psychotherapie von Patienten mit Borderline-Störung.

Es besteht aus einem Mix aus Kognitionswissenschaften, der Psychoanalyse, der Entwicklungspsychologie, der Affektforschung und der Neurobiologie, wobei davon ausgegangen wird, dass in bindungsrelevanten Stress- oder Krisensituationen der Klient auf erlernte Kindheitsmuster zurückgreift, die folgend umschrieben sind:

Äquivalenzmodus: Innenwelt und äußere Realität können in ihrer Bedeutung kognitiv nicht voneinander unterschieden und relativiert werden. Es sind keinerlei alternative Perspektiven möglich, alles scheint »real« zu sein – auch Träume und Erinnerungen.

Als-ob-Modus: Im Gegensatz dazu können Gedanken und Gefühle in so hohem Maß dissoziiert werden, dass sie beinahe ihre Bedeutung verlieren, innere Erfahrungen stehen in keinerlei Verbindung zu dem echten Erleben.

Teleologischer Modus: Das Körperliche steht an erster Stelle. Erleben wird nur dann als gültig empfunden, wenn seine Konsequenzen für alle offensichtlich sind, z. B. Zuneigung kann nur als solche wahrgenommen werden, wenn der Partner zum vereinbarten Treffen erscheint, tut er dies nicht (weil z. B. die U-Bahn nicht fuhr), wird eine Abneigung unterstellt.

Affektregulation in Change-,
Krisen- und Stress-Situationen 

Das Mentalisierungsmodell bezieht sich in seinem Kern auf die Affektregulation, in Situationen, in denen durch einen erhöhten Erregungszustand die Mentalisierungsfähigkeit beeinträchtigt ist. Im beruflichen Kontext betrifft das insbesondere individuelle Krisen, wie der Eintritt in eine neue Organisation, die erstmalige Übernahme einer Führungsposition, Jobstress, Burn-out oder berufliche Veränderungen, ebenso wie kollektive Krisen durch ökonomische Engpässe, Veränderungen der Organisationsstruktur oder -kultur sowie Fusionen bzw. Akquisitionen von Systemen. Im Arbeitskontext entstehen vielfältige Krisen durch interpersonelle, zwischenmenschliche Konflikte unterschiedlicher Schwere und unterschiedlicher Art. Die Förderung der Mentaliserungsfähigkeit hat sich daher bei der Stress- und Konfliktbewältigung und Führungskräfteentwicklung bewährt.

Prozess & Haltung

Im mentalisierungsbasierten Coaching sollte der Coach darauf achten, dass sein Klient »richtig« mit der Realität spielt, also nicht im Äquivalenz, Als-Ob oder teleologischen Modus kommuniziert. Kernstück zur Entwicklung eines mentalisierenden, kohärenten (»gesunden«) Selbst ist der Perspektivenwechsel auf Seiten des Klienten, während der Coach versucht, die Perspektive des Klienten einzunehmen (»playing with reality«). Fokus der gemeinsamen Zusammenarbeit ist dabei nicht der präsentierte Inhalt, sondern der Fokus auf das gemeinsame Mentalisieren als Spezifikum und innovative Komponente des Konzeptes.

Der Coach exploriert aus einer natürlichen Haltung des »Nicht-Wissens« heraus und fördert die Neugier des Klienten auf innere Motive von sich und anderen (»not knowing stance«). Die Fragen richten sich dabei immer wieder auf den Affekt, insbesondere auch das latente affektive Geschehen zwischen Coach und Klient während der Sitzung (»mentalized affectivity»). Coach und Klient begegnen einander auf Augenhöhe (»collaborative stance«), sodass in einem mentalisierungsförderlichen Klima von Sicherheit, Anregung, Irritation und Freiheit der Klient zum permanenten Weiterdenken und Weiterforschen über subjektives Erleben, verschiedene Sichtweisen und Identität ermuntert wird. Bedeutung wird dabei gemeinsam konstruiert.

Fazit

Die Förderung der Mentalisierungsfähigkeit sowohl bei individuellen und kollektiven Krisen als auch bei Themen, bei denen es um Interaktionen geht, macht Sinn, um situativ fehlende Mentalisierungsfähigkeit eines Klienten wiederherzustellen. Coaching könnte hier einem Explorationsprozess gleichkommen, um in Changeprozessen, Krisen- und Stress-Situationen agieren zu können.

Artikel mit Quellbezügen und Literaturliste gerne auf Anfrage.

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bärmann_steffi

Gastautorin

Steffi Bärmann

ist Bereichsleiterin Personalentwicklung, Training und Coaching am Institut für Personal und Organisation, FHWien der WKW.

steffi.baermann@fh-wien.ac.at