Potenzialanalyse als Zukunftsprognose

In diesem Artikel lesen Sie, inwieweit und ob Aussagen einer ­Potenzialanalyse mehr als nur eine Momentaufnahme sind.

In vielen Betrieben stellt sich jeden Tag aufs Neue die Frage, wie über die zukünftige Leistung, das Verhalten bzw. das Potenzial eines Mitarbeiters befunden werden kann. Die Informationsbasis, auf der darüber Aussagen getroffen werden, ist oftmals dünn und die Gültigkeit der Argumentation anzweifelbar. Inwieweit gängige Potenzialanalysen hier Abhilfe schaffen können, ist Kern vieler Personalentwicklungsdiskurse.

Üblicherweise werden mittels Potenzialanalysen etablierte Kompetenzen erhoben und eine Art Standortbestimmung über aktuelle Stärken und »Entwicklungsfelder« vorgenommen. Im Anschluss wird der Mitarbeiter bzw. Bewerber im Vergleich zur gewählten Normgruppe gereiht und eingestuft. Aber ob diese Ergebnisse tatsächlich eine Zukunft diagnostizieren bzw. reliable Aussagen über die Entwicklungsfähigkeit von Menschen treffen können, sei zunächst dahingestellt.

Potenzialanalysen ganz unterschiedlicher Art können sehr hilfreich sein und es lohnt sich meist, sich die Zeit für eine darauf basierende persönliche Reflexion zu nehmen. Natürlich ist es auch für Mitarbeiter und Bewerber immer wieder spannend, sich mit anderen zu messen. Als Diagnostiker und Recruiter sollte man jedoch nicht die Tatsache übersehen, dass man es hier mit einem schlichten Werkzeug zu tun hat, das wertvolle, aber eben stark reduzierte Informationen über den Menschen liefert. Selbst beim wissenschaftlich fundiertesten Verfahren, bei der höchsten Reliabilität und Validität, sollte man sich nicht verleiten lassen zu glauben, dass diese Ergebnisse ein Spiegelbild des Menschen seien. Es ist nur ein minimaler Auszug, der es uns momentan erleichtert, Entscheidungen zu treffen und Vergleiche anzustellen.
In der Eignungsdiagnostik sollte nicht der Anspruch sein, die Persönlichkeit des Menschen abzubilden – maximal Teilaspekte können hier situativ erhoben werden. Es gilt, den Menschen nicht willkürlich in Verfahren zu durchleuchten, sondern immer gezielt auf eine bestimmte Fragestellung, auf definierte Anforderungen hin Aussagen zu treffen. Auch die DIN 33430 beschreibt in der neuen wie schon in der alten Version klar, dass eingesetzte Verfahren immer einen klaren Anforderungsbezug haben müssen.
Ergebnisse einer Potenzialanalyse haben keine Allgemeingültigkeit – das würde ja implizieren, dass das »Selbst« stabil und immer gleich ist und man allgemeine Aussagen über Menschen treffen kann. Es geht immer um eine Aneinanderreihung von Einzelergebnissen, die wiederum aufgrund verschiedener Theorien und Konstrukte ausgewählt werden. Aber das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile und wie sich ein Mensch entwickelt, ist nicht nur bestimmt von seinen Kompetenzen, sondern von vielen persönlichen Dimensionen, aber auch stark vom Kontext. So sehr der systemische Gedanke in der Wirtschaft Platz eingenommen hat, bei den Potenzialanalysen scheint es manchmal so, als würden menschliche Kenntnisse, Werte und Interessen autark und umfeldunabhängig entstehen. Dabei werden wir doch auch hier stark von unserer Umgebung geprägt, gefördert und manchmal auch gehindert, was bei jedem Menschen wiederum kontextabhängig unterschiedliches Verhalten auslösen kann. Die psychologische Selbsterforschung hat eine lange Tradition und bietet viele verschiedene Ansätze. Helga E. Schachinger (2005) beschreibt dazu im Buch »Das Selbst, die Selbsterkenntnis und das Gefühl für den eigenen Wert« verschiedene Sichtweisen des »Selbst« und das »Selbst« im Spannungsfeld von Umwelt und Verhalten als eines von vier Selbstmodellen.
Wir verhalten uns situativ und nicht immer und jedem Gegenüber gleich. Wir kennen es doch: Wenn wir jemanden gegenüber wohlgesonnen sind, tun wir uns leichter, Kritik anzunehmen. Wenn wir uns in unserer Kraft erleben, können wir besser die Stärken des anderen sehen. Wenn wir uns sicher fühlen, können wir besser offen auf andere zugehen. Wenn wir uns nicht infrage gestellt fühlen, können wir besser einen Konsens herstellen. Wenn wir ausgeschlafen sind, wenn wir satt sind, wenn wir motiviert sind, wenn wir etwas für wichtig erachten, wenn wir ordentlich entlohnt werden usw.

Manche neueren Ansätze bemühen sich darum, den Menschen in seiner Komplexität und seinem Facettenreichtum ein Stück weit gerechter zu werden.

Einen interessanten Ansatz im Bereich der Potenzialanalyse bietet z.B. das B5PS (Big Five Inventar zur Persönlichkeit in beruflichen Situationen, Schuhfried/Matthias Ziegler, 2014). Laut Manual ist das B5PS »ein multidimensionaler und modular einsetzbarer Fragebogen zur Erfassung der Big Five Belastbarkeit (Emotionale Stabilität), Extraversion, Flexibilität (Offenheit für Erfahrungen), Gewissenhaftigkeit und Teamorientierung (Verträglichkeit). Die Erfassung dieser Persönlichkeitseigenschaften wird kombiniert mit den fünf Situationswahrnehmungsbereichen Monotonie, Ergebniserwartung, Belebtheit, Kognitiver Load und Psychischer und Physischer Load. Somit ist es möglich, die beiden Einflüsse Persönlichkeit und Situationswahrnehmung in einem Instrument zu erfassen und den Interaktionismusgedanken umzusetzen.«

Oder das Wiener Kompetenzmodell©, das von einem Innen und Außen des Menschen ausgeht und sich nicht alleine mit dem gezeigten Verhalten zufrieden gibt, sondern hinterfragt, welche Beweggründe etc. hinter eben diesem Verhalten stehen. Alfred Lackner (2012) beschreibt im »Praxishandbuch Managementdiagnostik«: »Die Außen-Seite – die Verhaltensebene – entspricht gewissermaßen der Funktionalität einer Person. Die Innen-Seite entspricht dem Kern der Persönlichkeit. Dieser Kern umfasst verschiedene Konzepte: Gefühle, Einstellungen, Werte, Interessen, Bedürfnisse und Motive. Die Innen-Seite einer Person ist ausschlaggebend für das Warum bzw. Wozu: Warum wird etwas getan? Beziehungsweise: Wozu wird etwas getan? Gerade wenn es um Prognosen über zukünftige Entwicklungen geht, ist die Innen-Seite von größerer Relevanz als die Außen-Seite.«

Letzten Endes braucht es Mut, eigene Einschätzungen und Entscheidungen weiterhin selber zu treffen – wissenschaftlich fundiert auf einem multimethodalen Ansatz – bereichert durch eine Vielfalt an Informationen über Menschen. Was zählt ist eine vorsichtige »Interpretation« von Einzelergebnissen bzw. ein gutes Hinterfragen im persönlichen Gespräch. Denn wie sich ein Mensch entwickeln wird, kann niemand »wahrsagen«. Einschätzungen bleiben situative Wahrscheinlichkeitsaussagen und darauf basieren letzten Endes die Entscheidungen. Und diese können nicht an Werkzeuge, an die Wissenschaft, an die Experten, an die Externen, an die Online-Tools delegiert werden.

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loidelsbacher

Gastautorin Martina Loidelsbacher-­Broucek
ist Wirtschaftspsychologin, Unternehmensberaterin, Coach und
eingetragene Mediatorin.
www.loidelsbacher-broucek.at

lasofsky-blahut_anja

Gastautorin
Anja Lasofsky-Blahut
ist Bereichsleiterin
Personalmanagement
am Institut für Personal und Organisation.
anja.lasofsky-blahut@­fh-wien.ac.at