360°-Feedback bei Social Distancing?

Ist die Einschätzung der Kompetenzen und Leistungen von Fach- und Führungs­kräften aus einer Vielzahl von Perspektiven aktuell möglich und sinnvoll?

Anlässlich der aktuellen Situation haben wir uns an zwei Experten gewandt und gefragt, ob ein 360°-Feedback in Zeiten des Social Distancing verlustfrei durchgeführt werden kann.

Thomas Olbrich (Chief Culture Officer bei karriere.at) unterscheidet in Befragung und Reflexion: »Weitestgehend. Das Feedback erfolgt ja in den allermeisten Fällen schriftlich bzw. so gut wie immer mithilfe eines Tools. Herausfordernder ist auf jeden Fall die Reflexion und Aufarbeitung, dazu gehört auch ein etwaiges Nachfragen. Angesichts von Corona fällt zudem der unmittelbare Austausch weg und damit mögliche Anhaltspunkte bei Körpersprache und Gestik.«

Peter Aichberger (Geschäftsführer der ­eucusa Consulting GmbH) sieht das ähnlich, aber mit anderen Konsequenzen: »Wir haben derzeit, während der Corona-Krise, kein 360°-Feedback-Projekt bei einem Kunden im Einsatz. Unsere Kunden haben im Moment andere Prioritäten und versuchen, die Arbeitsfähigkeit in ihren Unternehmen zu erhalten. Grundsätzlich ist das 360°-Feedback ja ein machtvolles und komplexes Instrument mit dem Ziel der persönlichen Weiterentwicklung, mit dem immer verantwortungsvoll umgegangen werden sollte. Dazu gehört auch die persönliche Begleitung durch Reflexionsgespräche und im Vorfeld ganz wesentlich die Kommunikation zum Projekt, um die Akzeptanz des Instruments und damit den Erfolg zu erhöhen. Das findet oft in Form von Großgruppenveranstaltungen statt – und ist im Moment nicht in gewohnter Art und Weise durchführbar.
Derzeit könnte aber beispielsweise ein Home-Office-Check zum Einsatz kommen, bei dem die Zufriedenheit der Mitarbeiter am Home-Office-Arbeitsplatz abgefragt werden kann. Hier kann man auch Fragen zur Führung einbauen. Unternehmen können so lernen, was im neuen Arbeitsumfeld von Social Distancing funktioniert hat und was nicht – auch in Bezug auf Führung.«

Wann ist der Einsatz von 360°-Feedback dann sinnvoll? Und was ist entscheidend für den Erfolg?

Peter Aichberger erklärt: »Wir empfehlen dieses Instrument etwa alle 2 Jahre einzusetzen, aber nicht in einer derartigen Umbruchphase wie im Moment. Es ist im Grunde das ideale Instrument, um vor einer Krise zu erkennen, wer im Falle des Falles ein richtiger ›Krisenmanager‹ sein kann, z. B. mit gerade jetzt gefragten Führungsfähigkeiten, um ein Team auch aus der Distanz führen zu können etc. Das 360°-Feedback hat ja ursprünglich militärischen Ursprung. Als ›Rundgespräch‹ zur Auswahl von Offiziersanwärtern wurde auch die Meinung der Kameraden eingeholt, wer sich an der Front gut bewähren würde. Dieser ›Rundumblick‹ hatte eine bessere Aussagekraft als verschiedene Testinstrumente oder die Einschätzung der leitenden Offiziere alleine.
Nach der Krise bietet sich das Instrument ebenfalls an, um etwa Führungsverhalten zu überprüfen und zu reflektieren. Wichtig ist aber generell die Akzeptanz, damit die Feedback-Nehmer das Instrument als konkrete Entwicklungsmaßnahme sehen und eine Verhaltensänderung herbeigeführt werden kann.«

Auf die Frage, welche Umstellungen konkret vorzunehmen sind, damit ein 360-Grad-Feedback unter Social Distancing gelingen kann, sagt Thomas Olbrich: »Es gilt das viel zitierte ›Vorbereitung ist alles‹, also mit den Tools umfassend vertraut zu sein. Darüber hinaus braucht es schon im Vorfeld eine entsprechende Vertrauensbasis, um aus dem Feedback quantitativ und qualitativ möglichst viel herauszuholen. Und: Die Beteiligten müssen sich bewusst sein, dass die Rückmeldung unterschiedlich ausfallen kann – je nachdem, ob Führungsverhalten vor Social Distancing oder bereits in Zeiten virtueller Führung beurteilt wurde. Eine klare Kommunikation ist also noch wichtiger, als sie es bisher schon war.«
Wir wollen von Thomas Olbrich wissen, ob das 360°-Feedback aktuell (in Zeiten des Coronavirus) Vorteile gegenüber anderen Methoden der Führungskräfteentwicklung hat. Er antwortet: »Ein Vorteil ist mit Sicherheit, dass es sich um eine digitale Methode handelt, mit der man sehr effizient von allen Stakeholdern Feedback einholen kann und rasch eine Auswertung zur Hand hat. Will man mehr Details erfragen und Learnings generieren, bleibt aber nach wie vor der Weg zu den jeweiligen Betroffenen – entweder virtuell oder persönlich und mit allen Pros und Kontras.«

Wir fragen nach: Erwarten Sie, dass es vermehrt zum Einsatz kommen wird, zu Lasten anderer Methoden?

Thomas Olbrich: »Das hängt davon ab, wie lange die Corona-Krise samt Social Distancing noch dauern wird. Ich gehe aber eher nicht davon aus.«

In unserer letzten Frage geht es um die Zukunft: Was erwarten Sie mittel- bis langfristig? Werden sich Inhalte und Methoden des 360-Grad-Feedbacks nach der Corona-Krise verändert haben?

Thomas Olbrich schätzt das so ein: »Die Anforderungen an Führungskräfte haben sich durch die Krise teilweise stark geändert. Die Leitung virtueller Teams beispielsweise hat deutlich zugenommen. Auch Home-Office wird intensiv genutzt und könnte in Zukunft noch mehr zum Arbeitsalltag gehören. Die neuen Anforderungen an Distance Leading werden sich auch in 360°-Feedbacks und ihrer Abwicklung niederschlagen.«

Peter Aichberger: »Das Thema Digitalisierung war schon vor der Coronakrise beim 360°-Feedback stark verankert. Die Umsetzung erfolgt fast immer per Online-Fragebogen, schon alleine deshalb, weil manche Feedback-Geber in unterschiedlichen Rollen mehrere Fragebogen ausfüllen müssen und das digital einfacher und schneller möglich ist. Die Kriterien von Führungskompetenzen sind im Zeitalter der Agilität aber sicher im Wandel, unabhängig von Corona, in Richtung Befähigung und Coaching der Mitarbeiter. Was in der Krise aber wieder stärker gefragt ist im Vergleich zu ›guten Zeiten‹, sind Management-Fähigkeiten zur Steuerung von Ressourcen, Prozessen und Personen – zusätzlich zum ›Leadership‹.
Der Trend wird vermutlich mittelfristig auch in Richtung Individualisierung von Sollprofilen für bestimmte Anforderungen gehen – je nach Einsatzbereich. Und digitales Coaching wird wahrscheinlich auch stärker in Anwendung kommen. Wir lernen jetzt, was alles über digitale Kanäle möglich ist, von Home-Schooling bis zu Yogastunden. Aus unserer Sicht wird aber immer die menschliche Komponente im Vordergrund bleiben, der Faktor Mensch-zu-Mensch. Coaching zur Reflexion nach einer 360°-Befragung via ›Bot‹ ist für uns nicht vorstellbar.«

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