Von alten zu neuen Arbeitswelten

Remote Leadership: Implikationen für Führungskräfte abgeleitet aus dem Change Management

Aktuelle Studien belegen: Remote Leadership ist in einem Großteil der Unternehmen angekommen. Daran lässt sich nach einem Jahr »Pandemie-Modus« nicht mehr rütteln. Nicht nur Wissenschafter aus unterschiedlichen Disziplinen wie Organisationspsychologie, Führungsforschung, Organisationales Verhalten etc. liefern hierzu Evidenzen und weiterführende Implikationen für die Praxis. Auch das Internet ist voll mit guten Ratschlägen für Führungskräfte, zugrunde liegenden Erfolgsfaktoren und praktischen Tipps für virtuelles Führen. Aktuelle Interviews mit HR-Experten zeigen ebenso auf, dass im ersten Pandemie-Jahr, teilweise unter enormen Druck und mit hohem Engagement, zunehmend digitalisiert sowie neue Routinen, Kommunikationsstrukturen und spezifisches Führungsverhalten für »Neue (virtuelle) Arbeitswelten« entwickelt wurden. Daneben wurden Kulturentwicklungs-Programme etabliert, es wurde technisch aufgerüstet und in sehr vielen Unternehmen zielgerichtet digitale Methodenkompetenzen und Selbstkompetenzen zur Arbeit in flexiblen Strukturen vermittelt. Somit macht sich vielerorts der Tenor breit, dass es kein Zurück mehr in die sogenannten »alten Arbeitswelten« gibt. Die Transformation ist voll im Gange und lässt sich anscheinend nicht mehr aufhalten – in der Welt nach Corona wird Remote Leadership wohl ein fixer Bestandteil der Unternehmenswelten bleiben. Dies wirft einige Fragen auf.

Radikaler Transformationsprozess?

Werden die obig angeführten Entwicklungen des letzten Jahres aus der Perspektive des Change-Managements betrachtet, so lässt sich feststellen, dass hier in vielen Unternehmen innerhalb eines relativ kurzen Zeitraumes tief greifende Transformationsprozesse ausgelöst wurden, die derzeit die Unternehmenswelt vor unterschiedlichste Herausforderungen stellen. Konkret beobachten lassen sich diese in den folgenden 4 Dimensionen bzw. Bereichen:
1. Führungsrollen: Verhalten und Leistungspotenzial von Mitarbeitern werden verstärkt über Vision, Sinn (Purpose) und klare Zielorientierung gesteuert. Eine Transformation in den Führungsrollen zeichnet sich ab: Auch Führungskräfte des mittleren Managements fungieren stärker als Visionäre, Sinnstifter, Ermöglicher (Enabler), Coaches und Change Agents.
2. Individualität: Beobachten lässt sich ein Wandel von Vorgaben und Kontrolle hin zu mehr Selbstbestimmung und Selbstorganisation, v. a. hinsichtlich der Vereinbarung von Lern- und Leistungszielen, Arbeitsinhalten und der Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort. Die individuellen Bedürfnisse einzelner Mitarbeitergruppen rücken hierbei in den Vordergrund. Individualität vs. Diversität wird als zentrale Herausforderung genannt.
3. Agilität: Agilität betrifft nicht nur Entscheidungen und Strukturen. Vor allem Kommunikation unterliegt hier einem Wandel. Raus aus alten, oft rigiden Meeting-Strukturen, hinein in agile Meetings, geprägt durch fixe Meeting-Routinen, schlanke Strukturen, klare Botschaften, adaptive Entscheidungen sowie Partizipation und Dialog. Die partielle Nutzung von agilen Methoden (z. B. daily Stand-ups) findet auch in traditionelleren Branchen Einzug.
4. Kultur: Fehlerkultur und offene Diskussionskultur sind in den letzten Jahren in vielen Unternehmen etabliert worden. Aktuell richten sich Kulturentwicklungsprogramme auf das Thema Purpose (Sinn- und Sinnstiftung), neue Werte für neue Arbeitswelten sowie die Etablierung einer Vertrauenskultur. Damit wird eine entsprechende Transformation der Unternehmenskultur als Basis für die zunehmende Flexibilisierung, Digitalisierung und den damit einhergehenden abnehmenden Kontrollmechanismen im Führungsalltag geschaffen.

Im Change-Management ist ein radikaler Wandel definiert als »eine schnelle und fundamentale Veränderung«. Betrachtet man die o. a. Transformationsprozesse innerhalb des letzten Jahres (ein relativ kurzer Zeitraum), dann können diese durchaus als radikale Wandelprozesse eingestuft werden, zumindest teilweise. Diese Einstufung kann Erklärungsansätze dafür liefern, warum »Remote Leadership« aktuell als besonders herausfordernd empfunden wird. Weiters ermöglicht diese Perspektive eine Herleitung von Kompetenzen, die sowohl für Change-Agents als auch für Führungskräfte in virtuellen Arbeitswelten gleichermaßen hilfreich sind.

Implikationen aus dem Change-Management für Führungskräfte?

Die Bewältigung radikaler Wandelprozesse erfordert ein Set an organisationalen Kompetenzen wie z. B. die Adaptionsfähigkeit (rasche Anpassung an Änderungen auf allen Ebenen der Organisation), die Umsetzungsfähigkeit (sorgfältige Entwicklung von Plänen, rasche Implementierung neuer Routinen, Verfestigung neuer Verhaltensweisen) oder die Reflexionskompetenz (Evaluierung und Hinterfragen des eigenen Handelns, Ableitung adaptierter Verhaltensweisen).
Vor allem das mittlere Management trägt hier erfolgskritische Rollen, wie z. B. die Rolle des Ermöglichers (z. B. Raum schaffen, um Neues auszuprobieren; Fehlertoleranz implementieren), des Umsetzers (z. B. Veränderungsschritte mit dem Team umsetzen; Durchhaltevermögen einfordern), des Motivators (z. B. Veränderungsbereitschaft fördern, Veränderungsenergie freisetzen), des Coaches (z. B. individuelle Begleitung bei Problemen, Unterstützung bei Lösungsfindung), des Change-Agents (z. B. klare Kommunikation von Veränderungszielen, Bearbeitung von Widerständen). All diese Rollen haben als basales Element eine Funktion gemeinsam: die Führungskraft als Kommunikator.

Führung ist Kommunikation, sowohl in Veränderungsprozessen also auch in der virtuellen Führung. Neben dem klassischen Set an Kommunikations- und virtuellen Methodenkompetenzen sollten Führungskräfte insbesondere auch die nachfolgenden 4 Fähigkeiten für Remote Leadership mitbringen:

1. Komplexität reduzieren und klar kommunizieren können: umfasst v. a. die Fähigkeit, komplexe Situationen überblicken, einordnen und reduzieren und folglich klare Botschaften vermitteln zu können.
2. Kommunikation an den richtigen Stellen einsetzen: umfasst v. a. die Fähigkeit, virtuelle Meeting-Strukturen so zu etablieren, dass eine Balance aus Information und Diskussion bzw. Partizipation möglich wird. Dadurch können Mitarbeiter im virtuellen Setting informiert, aktiviert und mobilisiert werden.
3. Dialogorientiert sein: umfasst v. a. die Fähigkeit, ein stabiles Dialogangebot zu kreieren, das unterschiedlichen Gruppen zu jeder Zeit zur Verfügung steht. Dadurch kann v. a. passiver Widerstand wie »Untertauchen« während der Arbeitszeit oder Rückzug und Schweigen während Meetings vorgebeugt und Vertrauen aufgebaut werden.
4. Emotionalität aushalten: umfasst v. a. die Fähigkeit, eigene und fremde Emotionen auszuhalten und im Team und/oder Einzelsetting bearbeiten zu können. Raum für informellen Austausch und soziale Nähe wird in virtuellen Settings eine besonders erfolgskritische Bedeutung beigemessen.

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Gastautor
Christina Schweiger
ist Head of Study Programs an der FHWien der WKW.
www.fh-wien.ac.at